CHEMonitor 1/2022 – Die Krise als Chance?
Weniger als die Hälfte der deutschen Manager bewertet den Chemiestandort Deutschland positiv
Die deutsche Chemieindustrie steht unter Schock. Der Ukraine-Krieg und die Debatte um ein Gasembargo gegen Russland treffen die Branche zu einer Zeit, in der sie ohnehin vor riesigen Herausforderungen steht. Die Stimmung unter deutschen Chemiemanagern sank im März 2022 auf einen neuen Tiefpunkt. Bei der CHEMonitor-Befragung bewerteten erstmals weniger als die Hälfte der Teilnehmer den Standort Deutschland positiv. Dennoch blickt ein Großteil zuversichtlich in die Zukunft.
„Die Krise als Chance?“ lautet das Fokusthema des 38. Trendbarometers CHEMonitor. Beim Start der Umfrage bezog sich der Begriff der „Krise“ vor allem auf die rund zwei Jahre andauernde Coronapandemie und den sich verschärfenden Klimawandel. Ziel war es, mehr über diese und weitere Herausforderungen für deutsche Chemieunternehmen sowie deren Priorisierungen zu erfahren. Hierfür wurden Top-Manager der deutschen Chemieindustrie von Mitte Februar bis Mitte März 2022 gemeinsam von CHEManager und Camelot Management Consultants befragt. 60 % der Befragungsteilnehmer antworteten vor Kriegsbeginn, der Rest danach. Und dennoch zeigten nur wenige Ergebnisse eine hohe Abhängigkeit vom Befragungszeitpunkt.
Schon bei der CHEMonitor-Umfrage vom November vergangenen Jahres erreichte die Stimmung unter deutschen Chemiemanagern einen Tiefpunkt. Dieser Trend setzte sich nun fort: Über den gesamten Befragungszeitraum bewerteten nur noch 46 % der Manager den Standort Deutschland mit „gut“. Ein Treiber dieser Entwicklung war der Standortfaktor Rohstoffverfügbarkeit, den nur 18 % der Teilnehmer positiv bewerteten, Zehn Prozentpunkte weniger als noch im November. Auch in Bezug auf Infrastruktur und Logistik verlor der Standort an Attraktivität. Hier sanken die positiven Bewertungen um 14 Prozentpunkte auf 49 % (vgl. Grafik 1).
„Die chemische Industrie steht vor einer dramatischen Herausforderung mit außer Kontrolle geratenen Rohstoffmärkten und Logistikressourcen auf der einen Seite und nachgebenden Absatzmärkten auf der anderen Seite. Risikomanagement für resiliente Wertschöpfungsketten heißt das Gebot der Stunde. Konkret heißt das: Verantwortliche müssen vorausschauende Simulationsszenarien entwickeln und Risiken in den Versorgungsketten proaktiv quantifizieren, damit sie bereits heute wissen, wie sie die Lieferketten für die Zukunft jede Zukunft widerstandsfähig machen können“, fasst Josef Packowski, Managing Partner bei Camelot Management Consultants, die Situation zusammen.
Die chemische Industrie steht vor einer
dramatischen Herausforderung mit außer
Kontrolle geratenen Rohstoffmärkten.Josef Packowski, Managing Partner, Camelot Management Consultant
Drei Viertel der CHEMonitor-Teilnehmer antworteten, die aktuellen Herausforderungen sind ungewöhnlich und beinhalten geschäftskritische Risiken. Aktuell die größte Sorge bereiten 75 % der Manager die Preissteigerungen auf der Beschaffungsseite. Das betrifft im Wesentlichen Gas und Strom. Im Jahr 2021 vervierfachten sich die Preise für Erdgas in Europa. Im Februar 2022 lagen die Preise für Industriestrom um 66 % über dem Vorjahresmonat.Viele unserer Unternehmen stehen mit dem Rücken zur Wand“, warnt Wolfgang Große Entrup, Hauptgeschäftsführer des Verbands der Chemischen Industrie (VCI). Zwar zeigt sich dies noch nicht in den Bilanzen der Unternehmen fürs erste Quartal, wenn diese die höheren Preise an ihre Kunden weitergeben konnten – so meldete z. B. BASF Mitte April einen Ergebniszuwachs von 21 % für Januar bis März 2022. Doch angesichts der trüben Konjunkturaussichten könnte sich dies schon bald ändern.
Die Auswirkungen anhaltender Lieferengpässe sowie der steigenden Inflation auf die Nachfrage der Konsumenten sind derzeit nicht abzusehen. Erstmals geben die Experten des Branchenverbands VCI daher im März keine Prognose für das Gesamtjahr, ein Novum in der Verbandsgeschichte.
„Die ökonomischen Verwerfungen durch den Krieg, die dynamische Entwicklung der Variablen und die Zahl der politischen Unsicherheitsfaktoren sind in ihrer Tragweite zu komplex. Jegliche quantitative Einschätzung wäre im großen Maße spekulativ“, begründet Große Entrup den Schritt.
Coronakrise beschleunigt den digitalen Wandel
Unabhängig von der aktuellen Unsicherheit und der Belastung durch hohe Rohstoffpreise sind Chemieunternehmen derzeit mit vielen kurz- oder mittelfristig wirksamen Herausforderungen konfrontiert. Am häufigsten nannten die Chemiemanager dabei den digitalen Wandel (87 %), gefolgt von der anhaltenden Pandemie (82 %) und der Disruption globaler Lieferketten (80 %). Sieben von zehn Managern antworteten, dass ihr Unternehmen vom demografischen Wandel und der Klimakrise bzw. Energiewende betroffen sei. Politische Krisen (57 %) hatten direkt vor Kriegsbeginn nur ein Drittel der Befragten auf der Agenda; nach dem 24. Februar stieg der Anteil auf 96 % (Grafik 2).
82 % der Umfrageteilnehmer gaben an, dass die Coronakrise die Digitalisierung in ihrem Unternehmen beschleunigt hat. „Die Ukraine-Krise könnte nach der Coronapandemie der zweite Beschleuniger für die Digitalisierung der Unternehmen werden. Im Fokus steht dabei sowohl die Vorsorge und Abwehr von Cyberattacken als auch die Unterstützung kurzfristiger Entscheidungsprozesse durch eine erhöhte Transparenz über relevante Ressourcen“, kommentiert Jörg Schmid, Studienleiter CHEMonitor beim Beratungsspezialisten Camelot Management Consultants, die Ergebnisse der aktuellen Umfrage.
Die Ukraine-Krise könnte nach der Coronapandemie
der zweite Beschleuniger für die Digitalisierung
der Unternehmen werden.Jörg Schmid, Studienleiter CHEMonitor, Camelot Management Consultants
Die Bedrohung der Cybersicherheit wächst und stellt eine zunehmende Gefahr für Unternehmen und die öffentliche Sicherheit dar. Bereits im Jahr 2020 haben sich die Angriffe durch Ransomware mehr als vervierfacht. Durch die aktuellen Kriegsgeschehen gewinnt das Thema nochmals an Relevanz.
Unabhängig davon messen drei von zehn Chemiemanagern der Digitalisierung im Bereich der Supply Chain und Logistik, in der Produktion und bei Forschung und Entwicklung eine erfolgskritische Bedeutung zu. Bei der aktuellen CHEMonitor-Befragung gaben 63 % der Teilnehmer an, in den kommenden zwölf Monaten einen Fokus darauf zu setzen, die Digitalisierung in ihrem Unternehmen voranzutreiben (Grafik 3).
Drohendes Gasembargo als Treiber der Energiewende
Insgesamt setzen drei von vier Chemiemanagern auch in der aktuellen Krisenzeit ihren Fokus eher auf zukunftsrelevante als auf existenzsichernde Maßnahmen. Hohe Investitionen fließen dabei in den Klimaschutz.
So kündigte z. B. BASF bereits im vergangenen Jahr Investitionen von 4 Mrd. EUR bis zum Jahr 2030 an, um seine Klimaschutzziele zu erreichen. Dabei nimmt der Konzern seine Versorgung mit erneuerbaren Energien in die eigene Hand. Einige Chemieunternehmen, darunter Evonik, platzieren Green Bonds, um ihre Investitionen für den Weg in die Klimaneutralität zu finanzieren.
Rückenwind bekommen die Chemieunternehmen durch die Ampelkoalition in Berlin. Die vorherige Bundesregierung hatte den Bedarf erneuerbarer Energien zu niedrig eingeschätzt, das Ausbautempo war daher zu langsam. „Wir müssen die Geschwindigkeit unserer Emissionsminderung verdreifachen und deutlich mehr in weniger Zeit tun“, sagte Wirtschaftsminister Robert Habeck im Januar 2022. Mitte April brachte die Bundesregierung das „Osterpaket“ mit Maßnahmen zur Beschleunigung der Energiewende auf den Weg. Es sieht vor, den Anteil der erneuerbaren Energien am Bruttostromverbrauch innerhalb von weniger als einem Jahrzehnt fast zu verdoppeln.
„Angesichts des Krieges ist es essenziell und richtig, dass die Bundesregierung die Energiewende vorantreibt und gleichzeitig auf die Kostenbremse tritt“, unterstützt Große Entrup den Kurs Habecks und warnt zugleich vor einem Gasembargo gegen Russland: Dann stünde die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit dieses Landes auf dem Spiel. Denn anders als in der Finanz- und Coronakrise würde sich Deutschland bei einer Industriekrise nicht so schnell wieder erholen.
BASF-Chef Martin Brudermüller rechnet für den Fall eines längerfristigen Ausfalls von Gas- und Öllieferungen aus Russland mit schweren wirtschaftlichen Schäden. Dies könne die deutsche Volkswirtschaft in ihre schwerste Krise seit Ende des Zweiten Weltkriegs bringen, so Brudermüller. (Vgl. den Beitrag auf der nebenstehenden Seite.)
Doch auch ohne dieses Worst-Case-Szenario gilt es, eine Überforderung der Chemiebranche zu vermeiden, wie sie nach Meinung Brudermüllers die schnelle Umsetzung des umstrittenen Green Deal Instruments CBAM (Carbon Border Adjustment Mechanism) mit sich bringen würde.
„Klimaschutz und Wettbewerbsfähigkeit sind miteinander vereinbar“, sagt Brudermüller und lehnt einen staatlichen Schutzschild in der Klimaschutzdebatte ab. Voraussetzung dafür seien jedoch wettbewerbsfähige Preise für erneuerbare Energien in Europa.
Hohes Vertrauen in die Resilienz der deutschen Chemie
Die Zuversicht des BASF-Chefs teilen auch die Teilnehmer der aktuellen CHEMonitor-Befragung. Sie vertrauen in die Resilienz der deutschen Chemieindustrie ebenso wie in die Wettbewerbsfähigkeit des eigenen Unternehmens. Zwei Drittel der Manager erwarten, dass die deutsche Chemieindustrie gestärkt aus den Krisenjahren hervorgehen wird. Für das eigene Unternehmen liegt der Anteil der Optimisten nochmals um 20 Prozentpunkte höher bei 85 % (Grafik 4).
Einen wesentlichen Beitrag zu dem zuversichtlichen Blick in die Zukunft leistet sicherlich die konstruktive Zusammenarbeit der Unternehmen mit der neuen Bundesregierung in der aktuellen Krise. „Das aktive und besonne Handeln unseres Wirtschaftsministers in diesen Wochen verdient maximale Wertschätzung“, lobte Große Entrup Mitte März anlässlich der Konferenz des VCI zum ersten Quartal.
Andrea Gruß, CHEManager