Anlagenoptimierung durch Zusammenarbeit
ABB steigert mit Collaborative Operations Center die Effizienz und Sicherheit von Produktionsanlagen
Wird die Coronakrise zum Turbo für die Digitalisierung in der Produktion? Und wie bewältigt man die auch schon vor der Krise bestehenden Herausforderungen wie CO2-Neutralität und demografischer Wandel? Volker Oestreich befragte hierzu Stefan Lau, der von Mannheim aus den Vertrieb für das deutsche Energy Business der ABB Geschäftseinheit Industrieautomation leitet.
CHEManager: Nach der Corona-Krise wird sich unsere Gesellschaft in vielfacher Weise verändert haben. Werden diese Veränderungen – oft aus der Not geboren und durch Improvisation umgesetzt – einen Einfluss auf die Digitalisierung und digitale Services in der Prozessindustrie haben?
Stefan Lau: Alle Unternehmen haben spätestens in der Krise erkannt, wie wichtig die digitale Transformation ist. Die Industrie muss digitale Lösungen im globalen Wettbewerb immer wirksamer einsetzen, damit sie schneller auf die zunehmende Komplexität durch die Entwicklungen der Industrie 4.0 reagieren kann. Das war schon vor der Corona-Krise so und verstärkt sich nun. Gerade die Prozessindustrie als systemrelevanter Wirtschaftszweig stellt sich die Frage, wie sie unter der erschwerten Personalsituation bei Fachkräften auf den Anlagen und im Service den Betrieb von Produktionsanlagen sicher und wirtschaftlich aufrecht erhalten kann. Remote Services spielen hier eine zentrale Rolle.
Welche Beispiele sehen Sie da konkret im Produktionsbereich?
S. Lau: Ich sehe da digitale Serviceleistungen auf allen Ebenen: von der Geräte- bis hin zur Unternehmensebene. Um die Digitalisierung als Wachstumstreiber zu nutzen und neues Wertschöpfungspotenzial für Anlagenbetreiber zu schaffen, bietet ABB kollaborative digitale Serviceleistungen an. Die Leistungen reichen von komplexen Optimierungslösungen zur Produktivitätssteigerung über vorrausschauende Zustandsüberwachung und Energieoptimierung bis hin zu Cyber-Security-Modulen und -Maßnahmen.
Ein konkretes Beispiel ist die Zustandsüberwachung rotierender Maschinen. Unsere Sensoren überwachen Niederspannungsmotoren, Pumpen und Wälzlager und liefern Informationen zu Betriebs- und Zustandsparametern wie Vibrationen, Temperatur oder Überlastung. Die Daten werden mit einer speziell entwickelten, cloudbasierten Software analysiert und dem Anlagenbetreiber in verwertbaren Informationen für die Wartungsplanung zur Verfügung gestellt. Der Rotating Machines Collaborative Service ist der erweiterte Umfang für die vorausschauende Überwachung und unmittelbare Benachrichtigung aus dem ABB Collaborative Operation Center. Dazu kann der Kunde kontinuierlich auf unser Expertenwissen zugreifen. Diese Collaborative Services können global nach dem Follow-the-Sun-Prinzip 24/7 angeboten werden. Die Experten überwachen und interpretieren kontinuierlich die Analyseergebnisse der Algorithmen und benachrichtigen proaktiv den Kunden im Falle einer entstehenden Störung. Dabei liefern sie detaillierte Ursachenanalysen und Empfehlungen zu weiteren Maßnahmen.
Was genau ist das von Ihnen erwähnte Collaborative Operations Center (COC)?
S. Lau: Die COC bilden das Rückgrat der digitalen Dienstleistungen von ABB. Hier laufen alle Fäden zusammen. Im Gegensatz zu marktüblichen Ansätzen bieten wir nicht einfach nur Produkte für die Anlagenoptimierung, sondern setzen früher und umfassender an: Unsere Experten analysieren den Ist-Zustand der Anlagen und leiten Verbesserungsvorschläge ab. Anschließend können die Kunden frei entscheiden, ob und wann sie die Maßnahmen umsetzen. Am deutschen ABB-Hauptsitz in Mannheim vereinen wir im COC Experten für unterschiedliche Branchen. Diese Spezialisten überwachen und analysieren Kundendaten nach verschiedenen Kriterien. Je nach vereinbartem Leistungsumfang erstellen sie auf Basis unserer branchenübergreifenden Kenntnisse regelmäßig Auswertungen und informieren unsere Kunden bei negativen Entwicklungen oder auftretenden Störungen. Asset- und Betriebsinformationen werden rund um die Uhr im COC gesammelt, vernetzt und analysiert, mit dem Ziel, die Profitabilität der Kunden durch Effizienzsteigerungen der Produktionsanlagen, erhöhte Sicherheit, verringerten Risiken und reduzierten Kosten zu erhöhen. ABB Experten nutzen das digitale Potenzial anlagenindividuell für Kunden, die sich jederzeit mit den Experten verbinden können.
In den sogenannten sozialen Medien ist schnell eine Information „geteilt“ oder „geliked“ – ist so etwas für die industrielle Arbeitsweise übertragbar, um Menschen oder Organisationen aus ihren oft selbstgeschaffenen Silos herauszuholen – und wie stellt man die Qualität der „geteilten“ Informationen sicher?
S. Lau: Silodenken gibt es nahezu überall. In jedem Betrieb, jeder Organisation, jeder Abteilung. Dabei sind die Nachteile, die ausgeprägtes Silodenken mit sich bringt, keineswegs unbekannt: Es hemmt die Kooperation, erhöht die Kosten, behindert den Fortschritt und gefährdet den Erfolg eines Unternehmens. Stattdessen sind Austausch, Zusammenarbeit und agile Prozesse gefragt. Die unüberschaubare Menge an Daten, die in einer Produktionsanlage erzeugt werden, erfordern eine kluge Bündelung und Interpretation, um zum Beispiel im Falle eines Alarms schnell die richtigen Schlüsse zu ziehen und die richtigen Handlungen abzuleiten. Für den Bediener im Leitstand einer Anlage ist das oft eine schwierige Situation. Wir bieten mit Collaborative Operations ein Service-Model, das Menschen in Produktionsanlagen und Unternehmenszentralen mit unseren Experten verbindet. Diese nutzen nicht nur Massendaten aus den Anlagen, sondern verknüpfen sie mit unseren tiefgreifenden Branchenkenntnissen. Die cloudbasierte ABB-Ability-Plattform eignet sich für den sicheren Austausch von Daten und ist in der Lage, mit anderen Cloud-Diensten zu interagieren. Auf diese Weise sind die Anlagenmitarbeiter mit unseren Experten vernetzt, lösen schnell etwaige Probleme und führen Optimierungen durch. Davon profitieren sowohl unsere Kunden als auch ABB. So können wir gemeinsam mehr wissen und mehr erreichen.
Wenn wir dieses große Bild mal auf einen einzelnen Regelkreis im Prozessbetrieb runterbrechen – da findet man doch immer wieder Situationen, dass die Regelgüte nicht systematisch überwacht wird, dass Anpassungen an geänderte Anforderungen nicht stattfinden und sogar Regelkreise auf Hand geschaltet sind. Wie kann Collaborative Operations die Loop Performance überwachen und optimieren?
S. Lau: Weil sich Regelkreise über die Zeit verändern und oft notwendige Experten fehlen, bleibt das Potenzial von verfahrenstechnischen Optimierungen teilweise ungenutzt. Um unseren Kunden die Möglichkeit zu geben, sich an die geänderten Anforderungen anzupassen, bietet das COC die Performance- Optimierung: Diese basiert auf kontinuierlich gesammelten großen Datenmengen und kann damit Entscheidungsvorlagen in Echtzeit generieren. Für unsere Kunden verbessern wir kontinuierlich die Anlagen und Prozesse, um einen effizienten Betrieb zu gewährleisten und den Return on Investment zu erhöhen. Mithilfe der Performance-Optimierung gibt das COC Empfehlungen zur schnellen und systematischen Problemlösung. Die Vorteile liegen auf der Hand: Durch die kontinuierliche Performance-Optimierung und die Bereitstellung des regelungstechnischen Expertenwissens, werden Know-How Engpässe vermieden, die Verfügbarkeit der Produktionsanlage erhöht sowie eine Verlängerung der Revisionszyklen erreicht.
Für die chemische Industrie sind Megatrends wie Demografie und potenzieller Know-how-Verlust oder Umweltschutz und CO2-Neutralität auch in Zeiten der Corona-Krise nach wie vor von Bedeutung – der Begriff „Green Recovery“ macht die Runde. Wie sollte man nach Ihrer Meinung das Thema Energieeffizienz konkret angehen?
S. Lau: Das nachhaltige und effiziente Energiemanagement von komplexen Industriestandorten ist eine anspruchsvolle Aufgabe. Für Unternehmen sind die Energiekosten zu einem entscheidenden Faktor für eine kosteneffiziente Produktion geworden. Im COC arbeiten wir daher mit dem Energiemanagementsystem Optimax, um Energieverbrauch, CO2-Emissionen sowie Betriebskosten zu senken und die Wettbewerbsfähigkeit unserer Kunden zu verbessern. Mit unserem Energiemanagement bieten wir eine prognosebasierte Betriebsoptimierung und können den Eigenversorgungsanteil von Anlagen erhöhen. Kunden erhalten einen besseren Einblick in Energiekosten und -verbrauch und profitieren von Zusatzerlösen durch Marktzugang und Aggregation. Mit Optimax wird es möglich, die gesamte Erzeugung, den Verbrauch und den Energiespeicher eines Standortes optimal zu steuern. Das System berechnet auf der Basis von Vorhersagedaten den optimalen Energiefluss und gleicht Abweichungen in Echtzeit aus. Es agiert als lernendes System, das aus Betriebsdaten Schlüsse zieht und weitgehend autark arbeitet.
Welche Rolle wird der „digitale Zwilling“ und KI bei all diesen Diagnosen und Optimierungen spielen und in welchen Bereichen werden sie zuerst zur Geltung kommen?
S. Lau: Letztlich geht es immer darum, die Wirtschaftlichkeit einer Anlage zu verbessern. Der „digitale Zwilling“ spielt dabei eine wesentliche Rolle. Er ermöglicht die einfache Erfassung und den einfachen Austausch von Daten, den unbeschränkten Zugang zu einer erheblich größeren Informationsvielfalt als bisher und eine beispiellose Interoperabilität. Gerade für Trainings- und Diagnosezwecke ist er von hohem Mehrwert. Mit dem digitalen Zwilling lassen sich beispielsweise verschiedene Betriebsszenarien im Voraus simulieren und bewerten, was für die Bedienerschulung unerlässlich ist. Denn so können auch gefährliche und seltene Betriebsszenarien durchgespielt werden. Wir sammeln gerade Erfahrungen in Richtung künstliche Intelligenz bei der prädiktiven Wartung. Erkennt das Instandhaltungssystem selbstständig, wann der optimale Wartungszeitpunkt ist und leitet daraus eine entsprechende Strategie ab, führt das zu weniger Ausfällen und Stillständen. In der Batchproduktion hat ABB eine Lösung entwickelt, die Abweichungen automatisiert erkennt und somit eine sichere und effizientere Chargenproduktion unterstützt. Die neue Lösung kombiniert spezialisierte Monitoring- und Analysemethoden mit KI.
„Mit unseren Online-Dienstleistungen können Aufgaben im Bereich Cyber Security effektiv und zeitnah auf unsere Experten übertragen werde.“
Auf der Autonomie liegen in der Industrie große Hoffnungen: Das Konzept der Autonomie erfüllt höhere Zuverlässigkeit und bessere Qualität bei niedrigeren Produktionskosten und reduziertem Energieverbrauch. Allerdings liegen trotz der erheblichen Fortschritte bei der KI noch einige Herausforderungen vor uns, zum Beispiel der Zugang zu relevanten Daten. Neben den positiven Auswirkungen, die die Industrielle KI haben könnte, bleibt sie ein Hype, da sie eine neue Art der Lösung alter Probleme darstellt. Die Automatisierung bleibt das Rückgrat der industriellen Produktion, während die industrielle KI diese Automatisierungssysteme weiter ausbauen wird, um autonomer zu werden.
Immer mehr Daten werden vor Ort, in der Edge und der Cloud gesammelt und bearbeitet - und gleichzeitig nehmen gezielte Cyberattacken auf die Industrie zu. Ist der Cyber-Sicherheitszustand der Anlagen in der Regel hinreichend bekannt und gewährt?
S. Lau: Fragt man in Unternehmen nach Cyber-Kriminalität, ist die Antwort häufig eine Mischung aus Sankt-Florians-Prinzip und Pfeifen im Walde: Statt sich mit der realen Gefahr zu befassen, hoffen die Verantwortlichen darauf, dass das digitale Haus der anderen in Brand gerät, oder sie behelfen sich mit Verdrängen. Dabei sind die Cyber-Gefahren für industrielle Prozesse in den vergangenen Jahren immer größer geworden. Deshalb ist es wichtig, für geeignete Cyber-Security-Maßnahmen zu sensibilisieren. In der Praxis sehen wir eine Zweiteiligkeit der Gefahren. Einerseits gibt es ein Grundrauschen von Cyber-Gefahren; gegen dieses helfen vergleichsweise einfache Gegenmaßnahmen wie regelmäßige Patches. Andererseits erleben wir sehr gezielte Angriffe gemäß dem Prinzip der Cyber Kill Chain. Hier versuchen die Angreifer, sich in mehreren Schritten bis in das Leitsystem vorzuarbeiten. Abhilfe gegen Angriffe auf Unternehmen des Industriesektors und einzelne Anlagen können Gegenmaßnahmen schaffen, die das Wissen um die Vorgehensweise des Angreifers nutzen und ihn abwehren. Eine wirksame Abwehrstrategie ist beispielsweise, einen Angreifer in der frühen Phase bereits zu erkennen und zu beobachten, die Sicherheitsmaßnahmen auf die spezifischen Charakteristiken des erkannten Angriffs einzustellen und ihn so nichts Wichtiges erreichen zu lassen. Die Verfügbarkeit und die Prozesskontinuität sind für die Industrie extrem wichtig. Deshalb ist es ratsam, während der Lebensdauer der Anlage jeden Versionensprung über kleinere Updates mitzumachen, um das Risiko für Upgrade-Projekte oder gar Anlagenstopps für große IT-Änderungen so gering wie möglich zu halten. Unser COC für den Bereich Cyber Security bietet die Möglichkeit, sofort auf Probleme und Gefahren in Kundenanlagen zu reagieren. Durch die Überwachung bestimmter Parameter werden Auffälligkeiten in der Anlage an das COC gemeldet. Dadurch sind wir in der Lage, unsere Kunden proaktiv zu informieren und zu handeln. Unsere kundenorientierten Online-Dienstleistungen helfen, Aufgaben im Bereich Cyber Security effektiv und zeitnah auf unsere Experten zu übertragen. Dadurch können schnelle und richtige Entscheidungen getroffen und vorhandene Sicherheitsprobleme untersucht werden. Die hervorragende Vernetzung der ABB Cyber-Security-Experten ermöglicht schnelles Handeln und sorgt somit für eine Steigerung der Effizienz und Zuverlässigkeit des Anlagenbetriebs.
Bei allen Themen, die wir jetzt diskutiert haben, ergeben sich gemeinsam zu bewältigende Aufgaben von Anlagenbetreiber und Lieferanten von Automatisierungsgeräten und -systemen. Wie weit ist aus Ihrer Sicht die Prozessindustrie auf dem Weg zur Industrie 4.0 und dem Zusammenspiel aller Partner in der Value Chain von der Entwicklung bis zum Vertrieb, und wie weit ist Ihr Unternehmen dazu bereit und in der Lage?
S. Lau: Mit Industrie 4.0 eröffnet sich eine neue Welt von Innovationsmöglichkeiten. Die dynamische Vernetzung von Produkten, Geräten und Anlagen ermöglicht neue Formen der Flexibilität. Um den digitalen Wandel in der Prozessindustrie erfolgreich voranzutreiben, ist die Zusammenarbeit aller Partner der Value Chain essenziell. Die großen Player in der Prozessindustrie sind längst in der Industrie 4.0 angekommen und Treiber der Digitalisierung und Weiterentwicklung von Technologien. Sie haben eigene Innovationsbereiche im Unternehmen etabliert, mit denen wir als Lieferant von Feld- und Analysentechnik, Steuerungsgeräten und Prozessleittechnik eng zusammenarbeiten. In unserem ABB Ability Customer Experience Center in Ladenburg erarbeiten wir in Co-Creation-Workshops mit Kunden und Partnern maßgeschneiderte digitale Lösungen, die genau den Kundenbedarf treffen. Von der ersten Idee bis zur konkreten digitalen Lösung agieren wir mit unseren Kunden als ein Team, Hand in Hand. Diese enge Kooperation ist wichtiger Bestandteil unserer Entwicklungsstrategie. ABB sieht sich als wegweisender Technologieführer in der Digitalisierung. Seit über 40 Jahren statten wir Geräte und Systeme mit Software und Schnittstellen aus, die für einen reibungslosen Betrieb sorgen. Mit einer installierten Basis von 70 Millionen vernetzten Geräten, 70.000 digitalen Steuerungssystemen und 6.000 Softwarelösungen sind wir heute das weltweit führende Unternehmen in der digitalen Industrie. In unseren weltweit sieben Forschungszentren wird nicht nur industrielle Grundlagenforschung betrieben: Unsere Wissenschaftler und Ingenieure arbeiten in einem Kooperationsnetzwerk, das ABB Geschäftsbereiche, Endkunden, Entwicklungspartner, Universitäten und Forschungsinstitute zusammenführt. Damit werden die verschiedenen Aufgaben im Innovationsprozess optimal unterstützt.
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