Anlagenbau & Prozesstechnik

Auslegung von Notentspannungssystemen

01.08.2019 -

Wie ein Notentspannungssystem für Behälter von reaktiven Stoffen mithilfe von adiabatischer Reaktionskalorimetrie praktisch dimensioniert werden kann, beschreibt dieser Beitrag. Das Reaktionskalorimeter wird gezielt dazu eingesetzt, um die benötigten sicherheitstechnischen Kenngrößen empirisch zu ermitteln. Es ist hervorzuheben das die je nach Anlagenstandort andere geltenden technischen Regeln stets zu beachten sind.

Bei der fabrikmäßigen Herstellung von Stoffen durch chemische Umwandlung und deren Lagerung muss ein gutes Verständnis der thermischen Sicherheit aller Stoffe gegeben sein. Ist dies nicht der Fall so kann dies bei der Abweichung vom Normalbetrieb zu Gefahren für Mensch und Umwelt führen. Daher hat die korrekte Auslegung von Druckentlastungseinrichtungen (z. B. Druckentlastungsventil und/oder Berstscheibe) eine große Bedeutung, um einen Reaktor oder Lagertank gegen Überdruck abzusichern. Beim thermischen Durchgehen eines Druckbehälters können große Temperatur- und Druckanstiegsraten entstehen, daher ist bei reaktiven Stoffen besondere Vorsicht geboten.
Es gilt das Schutzprinzip den Behälterdruck durch das Abführen von gasförmigen oder mehrphasigen Stoffströmungen unter den zulässigen Maximaldruck zu begrenzen. Die technische Regel für Anlagensicherheit (TRAS) 410 bietet Hilfestellung zur Erkennung und Beherrschung von exothermen chemischen Reaktionen. Im Labor kann die thermische Stabilität von Stoffen für den Normalbetrieb und bei Abweichungen vom Normalbetrieb untersucht werden. Aus dem im Versuch gemessenen sicherheitstechnischen Kenngrößen kann dann eine geeignete Druckentlastungseinrichtung sowie das gesamte Notentspannungssystem dimensionsiert werden.

Die Lehren aus Störfällen
Man kann auf zahlreiche Beispiele in der Vergangenheit zurückblicken, wo unzureichendes Verständnis oder eine mangelhafte Auslegung des Notentspannungssystem Unglücke verursacht haben. Aus vielen Störfällen konnten Lehren gezogen werden, die heutzutage Anwendung finden. Allerdings kommt es weltweit weiterhin vereinzelt zu Störfällen. Im Jahr 2017 hat die Explosion eines Zwischenlagers für Methylendiphenylisocyanate (MDI) gezeigt wie wichtig es ist vor der Inbetriebnahme eines neuen Prozesses in einer Gefahrenanalyse potentielle Störfallursachen zu identifizieren und analysieren. Die Untersuchung nach dem Unfall ergab, dass ein Ventil nicht vollständig geschlossen oder beschädigt war. Dies ermöglichte das Auslaufen eines Katalysators in den Lagertank und verursachte eine Autopolymerisation. Bei hoher Temperatur entstand dadurch Kohlendioxidgas. Die durch die Autopolymerisation gebildeten schäumenden Stoffströme verstopften die Entspannungsleitung, so dass der ansteigende Druck nicht ausreichend abgeführt werden konnte was schließlich zum Bersten des Lagertanks führte.

Kenngrößen ermitteln, aber wie?
Daher stellt sich die Frage wie sicherheitstechnische Daten ermittelt werden können, die zur sicheren Auslegung der Druckentlastungseinrichtung benötigt werden. Die adiabatische Reaktionskalorimetrie ist ein Messverfahren zur Bestimmung dieser Kenngrößen.
Welche oder wie viele Versuche durchgeführt werden müssen hängt von den Ergebnissen der Prozessgefahrenanalyse ab. Die folgenden Szenarien sind Beispiele die häufige Betrachtung finden: Ausfall der Kühlung, Feuer­einwirkung, Ausfall des Rührwerks, Fehlbefüllung/Fehldosierung oder Kontamination eines Batchs (z. B. durch Wasser).

Großtechnische Reaktionen simulieren
Verschiedene kommerziell erhältliche adiabatische Reaktionskalorimeter können großtechnische Reaktionen sicher in einer kleinen Testzelle mit relativ wenig Probenmaterial (10-100 ml) simulieren. Im Prozesssicherheitslabor von Jensen Hughes wird hauptsächlich das PHI-TEC II verwendet. Die gewonnenen Prozessdaten können dann für die Auslegung von großtechnischen Anlagen direkt und ohne zusätzliche Manipulationen verwendet werden. Grund dafür ist eine sehr dünnwandige Testzelle und die resultierende geringe Wärmeträgheit des Versuchsgeräts, welche in etwa dem Wärmeträgheitsverhältnis eines Produktionsreaktors oder Lagertanks entspricht.
Die Testzelle wird durch einen kontinuierlichen Gegendruckaufbau im Sicherheitsbehälter stabilisiert und somit vor dem Bersten geschützt. Weiterhin wird im Versuch die entstehende Reaktionswärme gemessen und über ein Heizelement von außen nachgeführt, d. h. ein Wärmeaustausch mit der Umgebung ist im Versuch äußerst gering und daher nahezu adiabatisch. Mit dem Versuchsgerät können ebenfalls Fehldosierungen oder Kontaminationen während eines laufenden Versuchs über Dosierpumpen eingespeist und somit auch zu einem späteren Zeitpunkt simuliert werden. Darüber hinaus kann das Strömungsregime (z. B. einphasig/zweiphasig) bestimmt werden, was bei der späteren Auslegung sehr wichtig ist.

Sinnvolle Teststrategie
Der Erfolg und sichere Ablauf einer Versuchsserie hängt von einer guten und sinnvollen Teststrategie ab. Grundsätzlich kann zwischen drei Reaktionstypen unterschieden werden:

  • Dampfähnliche Systeme, in denen der Überdruck durch einen steigenden Dampfdruck aufgebaut wird und Siedekühlung durch Lösemittel stattfindet. Die Reaktionstemperatur lässt sich dabei durch kontrolliertes Ablasen regulieren.
  • Systeme die Permanentgase bilden und sich die Reaktion nicht durch kontrolliertes Abblasen kontrollieren lässt.
  • Hybridsysteme die eine Kombination aus den ersten beiden Reaktionstypen sind und ausreichend Lösemittel für Siedekühlung am Ansprechdruck der Druckentlastungseinrichtung vorhanden ist. Abhängig vom zu erwartenden Reaktionstyp wird daher entweder eine offene oder eine geschlossene Testzelle verwendet.

Dampfähnliche Systeme lassen sich mit einer geschlossenen Testzelle simulieren. Mit einer offenen Testzelle lassen sich die Temperatur- sowie die Druckanstiegsgeschwindigkeiten am Ansprechdruck der Druckentlastungseinrichtung für Permanentgas- und Hybridsysteme ermitteln. Falls im Vorfeld keine begründete Annahme über den Reaktionstyp getroffen werden kann, wird in der Regel zunächst eine offene Testzelle verwendet, um den Versuch möglichst effizient und sicher zu fahren. Aus dem im Versuch gemessenen kinetischen Parametern kann dann nach ISO-4126-10 (Sicherheitseinrichtungen gegen unzulässigen Überdruck) oder der DIERS Methode (Design Institute for Emergency Relief Systems) eine geeignete Druckentlastungseinrichtung dimensioniert werden.

Kräfteungleichgewicht an der Rohrleitung
Das plötzliche Öffnen der Druckentlastungseinrichtung während eines Überdruckereignisses führt dazu, dass chemische Stoffströme durch die Rohrleitung des Notentspannungssystems beschleunigt werden. Das Öffnen eines Druck­entlastungsventils oder einer Berstscheibe kann dabei in wenigen Millisekunden stattfinden. Die Stoffströme werden dann in einen Catch Tank (geschlossenes System) oder unter Einhaltung von gesetzlichen Auflagen zur Toxizität und Zündfähigkeit über einen Abzug in die Umgebung (offenes System) abgeführt. Die schnelle Änderung des Impulsstroms erzeugt vorübergehend ein Kräfteungleichgewicht an der Rohrleitung. Diese fluiddynamischen Lasten müssen zusammen mit anderen anliegenden statischen Lasten (z. B. Eigengewicht und thermische Ausdehnung) bei der Systemkonstruktion kombiniert und berücksichtigt werden. Dies gilt insbesondere für geschlossene Systeme.
Darüber hinaus ist die Druckverteilung entlang der Rohrleitung von Bedeutung, wenn zusätzliche Behälter an einer Sammelleitung des gleichen Notentspannungssystems angeschlossen sind. Der an diesen Behältern erzeugte Gegendruck sollte berechnet und mit dem zulässigen Maximaldruck der Behälter, sowie dem Ansprechdruck aller Druckentlastungseinrichtungen verglichen werden. Verschiedene Programme können bei der Modellierung des Rohrnetzes eingesetzt werden. In der Regel ist ein eindimensionaler Lösungsansatz für die Fluiddynamik ausreichend.

Dynamische Spannungsanalyse ist zu empfehlen
Um letztendlich die dynamische Spannungsanalyse durchführen zu können, müssen die Fluidkräfte in ein Programm zur Festigkeitsanalyse (z. B. finite Elemente Methode) exportiert werden. Das je nach Standort anzuwendende technische Regelwerk bestimmt, welche Lastfälle berücksichtigt werden sollen. In der Vergangenheit hat sich ein dynamischer Lastenfaktor von ~2 etabliert der in einer einfachen statischen Berechnung eingebaut wurde. Dieser Lösungsansatz deckt allerdings nicht immer alle Szenarien ab. Grund dafür ist, dass beim plötzlichen Öffnen der Druckentlastungsvorrichtung große Reaktionskräfte an Lagerpunkten sowie Biegespannungen in der Rohrleitung entstehen können. Dynamische Spannungen können auf ein Vielfaches der statischen Spannung ansteigen, wenn der Druckentlastungsvorgang eine Eigenfrequenz des Gesamtsystems anregt und sich so vorübergehend eine Resonanzschwingung einstellt. Daher wird die dynamische Spannungsanalyse empfohlen.
Eine vollständige Betrachtung oder Neuauslegung eines Notentspannungssystems beinhaltet auch eine Ausbreitungsrechnung gegebenenfalls mit Validierung des Catch Tanks. In der Ausbreitungsrechnung wird die Größe der Abgasfahne sowie das Potenzial für Toxizität und Zündfähigkeit bestimmt. Die im adia­batischen Reaktionskalorimeter gewonnenen Daten können in Kombination mit den berechneten Strömungsgeschwindigkeiten dafür verwendet werden.

Kontakt

Jensen Hughes Inc.

Chicago