Chemie & Life Sciences

Auf dem Gebiet der Bioraffinerie hat sich in den letzten 16 Jahren viel getan

Eine weitere Steigerung bei der stofflichen Nutzung nachwachsender Rohstoffe in Deutschland ist möglich

13.05.2019 -

Bei der zehnten Ausgabe der Konferenz „BIO-raffiniert“ im Februar 2019 drehte sich alles um die Nutzung von Biomasse. Wie bei allen Veranstaltungen dieser Konferenzreihe, die im Jahr 2003 gestartet ist, gab es angeregte Diskussionen über bereits etablierte Technologien, Innovationen und wirtschaftliche Perspektiven. Nach einem ersten Boom, der Mitte der 2000er Jahre durch steigende Rohölpreise mit ausgelöst wurde, und einem zwischenzeitlichen Rückgang bei der Begeisterung für das Thema Bioraffinerie sind mittlerweile ein steigendes Interesse und ein stetiger Ausbau der industriellen Kapazitäten zu erkennen. Die Suche nach klimaschonenden Alternativen bei der Chemieproduktion und steigende Preise für CO2-Zertifikate treiben diese Entwicklung an.

Eine Recherche des Nova-Instituts hat im Jahr 2017 für Europa eine Gesamtzahl von 224 Bioraffinerien erfasst. Darin eingeschlossen sind zum einen eher einfache Technologien wie Biodiesel- und Bioethanolanlagen, die sich auf ein Hauptprodukt konzentrieren. Auf der anderen Seite finden sich aber auch Werke der Oleochemie oder der Stärke-, Zucker- und Celluloseverarbeitung, die verschiedene Paletten unterschiedlicher Produkte erzeugen. Auch die Aufarbeitung von Waldholz, einer in Deutschland und Europa in großer Menge verfügbaren natürlichen Rohstoffquelle, zu Papierzellstoff und weiteren Chemikalien findet sich bereits in 25 europäischen Zellstoffwerken. Somit hat sich heute bestätigt, was bereits vor über zehn Jahren auf einer der ersten Kongresse festgestellt wurde: „Die“ Bioraffinerie gibt es nicht. Vielmehr hat man es mit einer Vielzahl an Technologien zu tun, die jeweils angepasst an die verwendeten Rohstoffe zu einem Spektrum an Zielprodukten führen. Wir haben es also nicht – und das wurde bereits 2003 bei der Eröffnung des ersten „Bio-raffiniert“-Kongresses festgestellt – mit einem radikalen Wandel in der Rohstoffstruktur der chemischen Industrie vom fossilen zum nachwachsenden Rohstoff zu tun, sondern mit einer evolutionären Entwicklung.

Vor welchen Aufgaben stehen wir?
Dass eine weitere Steigerung bei der stofflichen Nutzung nachwachsender Rohstoffe in Deutschland möglich ist, zeigt sich beim Blick auf die heutige Verteilung der Agrar­flächennutzung. Der Anteil des Anbaus für die stoffliche Nutzung ist in den vergangenen zwei Jahrzehnten in etwa konstant geblieben. Sie liegt bei ca. 300.000 ha, was rund 2 % der deutschen landwirtschaftlichen Nutzfläche umfasst. Zugenommen hat in dieser Zeit vor allem der Anbau von Pflanzen für die Erzeugung von Biodiesel, Bioethanol und Biogas, in Summe macht dies über 2 Mio. ha aus. Die Nutzung dieser Energiepflanzenflächen für die Herstellung von Chemieprodukten und die gleichzeitige Dekarbonisierung des Verkehrssektors durch Elektromobilität auf der Basis von Ökostrom wäre deutlich effizienter als die in jüngster Vergangenheit oftmals diskutierte Verwendung von Kohlendioxid als Chemierohstoff. Wie der Verband der Chemischen Indus­trie ausgerechnet hat, wären rund 600 TWh Strom nötig, um enorme Mengen an Wasserstoff zu erzeugen, die die Nutzung von Kohlendioxid als einziger Kohlenstoffquelle für die chemische Industrie in Deutschland erst ermöglicht. Zum Vergleich: Diese 600 TWh entsprechen ziemlich genau dem aktuellen Gesamtstromverbrauch Deutschlands. Selbstverständlich muss auch bei der Biomasse­nutzung auf Effizienz geachtet werden. Nicht jede Bioraffinerie ist a priori nachhaltig. Bei der Entwicklung neuer Systeme müssen in Zukunft wirtschaftliche Aspekte gemeinsam mit sozialen und ökologischen Kriterien bewertet werden, um wirklich nachhaltige Bioökonomiesysteme zu realisieren. Ein aus dieser Sicht interessanter Ansatz sieht vor, Bioökonomie in Form von Pflanzenproduktion für Ernährungszwecke und stoffliche Nutzung der Produktionsabfälle dezentral in die Städte zu holen (Urban Farming), da dies zur deutlichen Verminderung von Logistikaufwand führen kann.

Neue Wege stehen uns offen

Eine interessante Entwicklung ist
die Kombination chemischer Synthesen mit
enzymatischen Schritten zu neuen Produktions-
wegen für Industriechemikalien.

Eine besonders interessante Entwicklung ist die Kombination chemischer Synthesen mit enzymatischen Schritten zu neuen Produktionswegen für Industriechemikalien. Forscher der Universität Bielefeld können so auf Basis unterschiedlicher Fettalkohole aus nachwachsenden Rohstoffen ein breites Spektrum an Fettnitrilen herstellen. Elektrokatalytisch lässt sich aus Kohlendioxid mit Wasser Formiat herstellen, welches dann als Rohstoff für die fermentative Produktion dienen kann. Ein altbekannter Syntheseweg, dessen Umsetzung im Wesentlichen an den wirtschaftlichen Randbedingungen scheitert, ist die Synthesegaserzeugung und –nutzung aus Biomasse. Ohne die Klimaauswirkungen der Material- und Kraftstoffproduktion aber in den Herstellkosten zu internalisieren, bspw. über CO2-Zertifikate oder -Steuern, ist dieser Prozess wirtschaftlich der Verwendung fossiler Kohle unterlegen. Auch neu entwickelte Vorbehandlungstechniken für die Biomasse, z. B. durch Torrefizierung, können die Effizienz der Prozesskette etwas verbessern. Weiterhin ist zu beobachten, dass zur Nutzung CO-haltiger Prozessgase neben thermochemischen Prozessen auch die biotechnologische Konversion zunehmend eine Rolle spielt. Vor allem wenn darum geht, Vorstufen für Polymere herzustellen.

Als Rohstoffe für die Bioökonomie sind und waren schon immer Reststoffe – oder besser gesagt: Koppelprodukte – der Pflanzenproduktion eine nachhaltige Option. Seit einigen Jahren wird bereits Stroh als Rohstoff für die Ethanolfermentation getestet und auch immer öfter in den industriellen Maßstab übertragen. Im Fokus sind weiterhin die großen Mengen an Fasern und Rückständen der Fruchtstände aus der Palmölproduktion. Auch diese besitzen ein großes Potenzial, z. B. für die enzymatische Herstellung von C5- und C6-Zuckern. Auch zur Verwendung von Kaffeesatz als Rohstoff für die Gewinnung von Ölen und als Füllstoff für Kunststoffe wird geforscht.

Wichtig für den Erfolg der Bioökonomie
 ist auch, dass sich die Verbundstandorte damit
beschäftigen, wie Bioraffinerien in die Prozess-
ketten integriert werden können.


Wichtig für den Erfolg der Bioökonomie ist auch, dass sich die Verbundstandorte der chemischen Industrie damit beschäftigen, wie Bioraffinerien in die Prozessketten integriert werden können – gerade wenn es im Umland große landwirtschaftliche Produktionsflächen gibt. Nicht zuletzt steigende Preise für CO2-Zertifikate, die anstehende Modernisierungen der Standorte und Imagegewinne sorgen für bioraffinierte Planungen in Chemieparks. Zwar sind Bulk-Chemikalien aus Biomasse meist noch teurer als ihre petrochemischen Pendants und eine echte Verknappung fossiler Rohstoffe ist nicht in Sicht. Hersteller nutzen aber den Trend, dass biobasierte Chemikalien in Produkten für Privatanwender wegen des nachhaltigen Images mit höheren Preisen abgesetzt werden können. Daher sehen nun auch die chemischen Verbundstandorte den Umgang mit „verderblicher“ Biomasse nicht mehr als unmöglich an, sondern erkennen die regionale Verfügbarkeit von Rohstoffen als Standortvorteil.

Visions of the Future
Im Rahmen des neuen Formats „Visions of the Future“ haben Forscher bei Bio-raffiniert X in großen und kleinen Gruppen über die Frage diskutiert, ob es neue Wege in der Nutzung biogener Rohstoffe gibt und was Bioraffinerien für die Zukunft von Plattformchemikalien, Kraftstoffen, Industriechemika­lien sowie Kunststoffen leisten. Ein erster Ausblick zielt darauf, das Konzept Bioraffinerie – wie es z. B. in der Roadmap Bioraffinerien und der VDI-Richtlinie 6310 definiert ist – beizubehalten, weil es erfordert, immer das Gesamtsystem bzw. die gesamte Wertschöpfungskette zu betrachten. Das zukünftige Energiesystem und die Nutzung nachwachsender Rohstoffe ließen sich z. B. mit den Konzepten „Power-to-X“ und „Elektro­bioraffinerie“ in Einklang bringen. Schließlich könnte die Reaktivierung des Konzepts „Industrial Symbiosis“ die oft noch fehlende Kooperation an den Schnittstellen der Wertschöpfungskette neu in Gang setzen.

Zur Person
Stephan Kabasci
ist seit 2013 Abteilungsleiter „Biobasierte Kunststoffe“ am Fraunhofer-Institut UMSICHT. Der promovierte Chemieingenieur ist seit 1992 Mitarbeiter des Instituts und war dort zunächst als Projektingenieur und Projektleiter im Bereich Umwelttechnik tätig. Später leitete er die Arbeitsgruppe „Bioverfahrenstechnik“ und das Geschäftsfeld „Nachwachsende Rohstoffe“. Seit 2009 ist er Vorsitzender des Fachbeirats Biotechnologie im Verein Deutscher Ingenieure.

Hartmut Pflaum ist aktuell am Fraunhofer-Institut UMSICHT verantwortlich für Innovationsmanagement und strategische Projekte. Im Jahr 1991 war er nach seiner Promotion im Fach Chemie­ingenieurwesen dort zunächst verantwortlich für Marketing und Kommunikation im Bereich Umwelttechnik, bevor er zehn Jahre lang die Abteilung für Ressourcenmanagement leitete. Er war u.a. Vorsitzender des VDI-Richtlinienausschusses 6310 „Gütekriterien für Bioraffinerien“.

www.umsicht.fraunhofer.de
www.bio-raffiniert.de

Kontakt

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