Anlagenbau & Prozesstechnik

Anlagenbau ohne strukturierte Daten?

Asset-Lifecycle-Datenmodell für integriertes Engineering

12.02.2019 -

Anlagenbau ist ein kreativer Prozess, für den „Wissen“ notwendig ist, zum Beispiel physikalische Gleichungen. Aus Wissen werden wiederum Information generiert, die in der Vergangenheit im Anlagenbau im Wesentlichen in Form von Zeichnungen wie dem Verfahrensfließbild oder dem Rohrleitungs- und Instrumentierungsfließbild (R&I) oder in Listen dokumentiert wurden. Informationen sind Daten mit Kontext, d.h. in Zusammenhängen oder Strukturen. Nur mit diesem in den Zeichnungen dokumentierten Kontext und den Strukturen kann eine Anlage entstehen. Das heißt aber auch, dass Kontext und Strukturen immer notwendig sind, egal ob wir menschliche oder künstliche Intelligenz einsetzen.

Wollen wir die Vorteile der Digitalisierung im Rahmen von Industrie 4.0 nutzen, müssen wir die analogen Zeichnungen digitalisieren. Das heißt bspw., dass die Informationen des Verfahrens- und R&I-Fließbildes in einem digitalen Datenmodell abgebildet werden müssen.
Die Fließbilder enthalten im Wesentlichen

  • Prozess- und Medieninformation (Drücke, Temperaturen, Dichte, Konzentrationen…)
  • Anlagendaten (Strukturen, Verschaltung, Topologie)
  • Asset-Informationen (Typen der Komponenten, Konstruktionsdaten, Abmaße,…).

Dabei muss unterschieden werden zwischen den Funktionsanforderungen (Functional Requirements, wesentliche Information des Prozesses), der Ausprägung der Funktion (Functional Design), der Spezifikationsanforderung für  z.B. für Apparaten und Maschinen (Asset Specification) und den tatsächlichen, physikalischen Assets (Asset in Operation). Das R&I Fließbild umfasst hierbei vorwiegend Informationen aus dem Functional Design, aber auch teilweise bereits Informationen für die Asset Specification.
Im Bereich der Dokumente fallen die Verfahrensdatenblätter in den Bereich Functional Design, während technische Spezifikationsdatenblätter für Geräte unter dem Aspekt Asset Specification behandelt werden. Eine wichtige Unterscheidung besteht zwischen Asset Specification, also den Auslegungsdaten des Assets, dessen Information zur Anlage gehören, und der tatsächlichen physikalischen Komponente,  z.B. der Pumpe, die die Anforderungen mehr oder weniger erfüllt. Die physikalische Komponente ist entweder in der Anlage eingebaut oder steht  z. B. gerade in der Werkstatt. Diese Differenzierung kennt man aus den ERP-Modulen, nämlich die Unterscheidung zwischen Technischen/Funktionaler Platz und Equipment.
Im Datenmodell werden diese Informationen in Form von

  • Objekten
  • Objekt-Attributen
  • Relationen zwischen den Objekten (Beziehungen)

abgebildet.

Datenmodell für den gesamten Anlagenlebenszyklus
Der Lebenszyklus (Asset Lifecycle) der Anlage umfasst die Phasen Process Development, Engineering & Construction und Production & Maintenance. Heute finden wir in den verschiedenen Phasen und für die verschiedenen Disziplinen fragmentierte Simulations- und CAE-Werkzeuge, für die es zumindest herstellerunabhängig keine standardisierten Schnittstellen gibt. Insbesondere fehlen im Anlagen­betrieb geeignete intelligente Systeme, so dass viele Informationen an der Schnittstelle vom Engineering in den Betrieb verloren gehen. Das hat unter anderem zur Folge, dass beim nächsten Projekt im Brown-Field zunächst eine erneute Ist-Aufnahme notwendig wird und die meisten Zeichnungen aktualisiert werden müssen.
Das Ziel ist daher ein hersteller­unabhängiges Datenmodell, welches alle für den Anlagenlebenszyklus relevanten Informationen enthält. Damit wird ein durchgängiges, effizientes Engineering und dessen technischer Betrieb unter Nutzung von Simulations-, CAE-und Berechnungssystemen unterschiedlicher Hersteller ermöglicht.
Wesentliche Arbeiten hierzu wurden bereits 2012 durch DEXPI (Data Exchange in Process Industrie), einer internationalen Initiative der Prozessindustrie, gemeinsam mit Hochschulen, CAE-Herstellern und internationalen Normungsgremien, gestartet. Ziel war es dabei, den Informationsinhalt des R&I Fließbildes als Datenmodell basierend auf der ISO 15926 abzubilden und Spezifikationen für entsprechende Softwareschnittstellen zu programmieren.
Eine vergleichbare Initiative wurde vor einigen Jahren in der Öl- und Gasindustrie gegründet (Capital Facilities Information Hand Over Specification, CFIHOS) mit dem Ziel, die Schnittstellen zwischen den Betreiberfirmen und Ingenieurbüros zu standardisieren. Evonik unterstützt die DEXPI Initiative dabei, eine Harmonisierung mit CFIHOS basierend auf dem ALC Datenmodell zu erreichen, damit sowohl für die Öl- und Gas- als auch für die Chemieindustrie gleiche Standards verwendet werden können.

Daten systemübergreifend integrieren
Im Rahmen des Forschungsprojekts ENPRO-Datenintegration, welches vom BWMi gefördert wurde, als auch der allgemeinen Digitalisierungsstrategie der Evonik für die Geschäftsprozesse des Asset Life­cycle Management wurde das DEXPI-­Modell auf ein Asset Lifecycle Datenmodell (ALC), entsprechend der am Anfang genannten Zielstellung eines integrierten Engineerings über den gesamten Lebenszyklus einer Anlage, erweitert. Dabei wurde grundsätzlich darauf geachtet, dass die Erweiterungen möglichst auf Basis international anerkannter Normen basieren, und so wenige wie möglich firmenspezifische Festlegungen getroffen wurden. Es wurden ggf. notwendige Erweiterungen in den Objektklassen, Anlagenstrukturen und Attributen vorgenommen. Der Bereich der Mess- und Regelungstechnik wurde unter Nutzung der IEC 61987 bzw. der NAMUR-Empfehlung NE 100 als auch der NE 159 und NE 150 detaillierter abgebildet.
Zurzeit wird das ALC-Datenmodell in die CAE-Systeme verschiedener Hersteller Implementiert. Die Implementierung in Comos-FEED (Siemens) ist abgeschlossen. Das Datenmodell steht damit auch anderen Nutzern von Comos-FEED zur Verfügung.
Das Datenmodell ist jedoch nicht nur die Basis für die Integration der CAE-Systeme. Vielmehr haben wir heute im Lebenszyklus einer Anlage verschiedenste isolierte Systeme, die alle eigene Datenstrukturen besitzen und damit den Datenaustausch aufwändig machen („Information Silos“). Dieses sind bspw. Simula­tionssysteme, Virtual Plant Simulatoren, Prozessleitsysteme, Manufacturing Excecution Systeme (MES) und Prozess-Informationssysteme (PIMS), Advanced Process Control (APC), Labor-Informations-Systeme (LIMS), ERP-System und weitere.
Auf Basis des ALC-Datenmodells ist eine automatisierte Integration vieler dieser Systeme möglich. So liefert die Simulation bei der Anlagenauslegung wesentliche Informationen für das Datenmodell. Auf der anderen Seite wird das Simulationsmodell aber auch als Basis für virtuelle Trainingssysteme und APC benötigt. Die Nutzung eines gemeinsamen erweiterten ALC-Datenmodells würde es an dieser Stelle möglich machen, das Simulationsmodell bei Anlagenänderungen im CAE automatisch zu aktualisieren. Das ALC-Datenmodell in Verbindung mit dem Simulationsmodel bildet den Kern des digitalen Zwillings der Produktionsanlage.
Die Wahrscheinlichkeit ist hoch, dass Architekturen, die bisher in eigenen Hard- und Softwaresystemen realisiert wurden, z. B. Virtual Plant Simulator (VPS), in Zukunft auf Plattformen virtualisiert werden. Das ist Zukunftsmusik, aber die ersten Töne sind hörbar.

ALC-Datenmodell als Industriestandard etablieren
Welche konkreten Aufgaben stehen jetzt für die Weiterentwicklung des ALC-Datenmodells an? Neben dem Abgleich zwischen DEXPI und CFIHOS wird an der Abstimmung der ALC-Datenmodells mit dem Modul-Type-Package (MTP) gearbeitet. Wird ein Modul auf Basis des ALC-Datenmodells entwickelt, sollte der MTP automatisch generiert werden können, denn die notwendigen Informationen sind im ALC-Datenmodell vorhanden. Die Weiterentwicklungen des Asset-Lifecycle-­Datenmodells bei Evonik werden in Abstimmung mit der DEXPI Initiative sukzessive in das DEXPI-Modell integriert. Die Erweiterungen der Mess- und Regelungstechnik sind hierbei bereits beschlossen.
Die DEXPI-Initiative soll als neutraler Datenmodell-Host agieren. Ziel ist es, das ALC-Datenmodell als Industriestandard zu etablieren und allen möglichen Nutzern frei zugänglich zur Verfügung zu stellen.
Bei Evonik arbeiten wir konkret an der vollständigen Implementierung des ALC-Datenmodels in den CAE-Systemen mehrerer Hersteller, aber auch in den Simulationssystemen. Auch die ersten Ansätze, das ALC-Datenmodell auf kommerziell verfügbaren IT-Plattformen zu implementieren, waren erfolgreich, so dass das Datenmodell für die verschiedensten Applikationen auf den Plattformen genutzt werden kann. Für den Anlagenbetrieb ist es darüber hinaus notwendig, das ALC-­Datenmodell, welches ein reines Strukturmodell ist, z.B. auf zeitlich veränderliche Informationen, um ein Operations-Daten­modell (ODM) zu erweitern.

Kontakt

Evonik Technology & Infrastructure GmbH

Paul-Baumann-Str. 1
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