Power to Chemicals – Ökostrom als Rohstoff
P2X läutet eine neue Ära der Chemieindustrie ein
„Power to X“ steht für Technologien, die Strom aus erneuerbaren Quellen in stoffliche Energiespeicher, Energieträger und energieintensive Chemieprodukte umwandeln. Selbst wenn Ökostrom weit über dem aktuellen Energiebedarf produziert wird, lässt er sich dadurch komplett nutzen bzw. speichern, etwa als Kraftstoff für Autos oder Beimischung im Gasnetz. Besonders interessant für Chemieunternehmen: Aus Wasserstoff, Sauerstoff und Kohlenstoff können mit Ökostrom die zur Herstellung von Kunststoffen, Waschmitteln oder Additiven benötigten Grundstoffe synthetisiert werden – der Einsatz fossiler Rohstoffe wird dadurch vermeidbar.
Streit im Weiler Atdorf, Stunk am Jochberg, Stress in der Marktgemeinde Lam: Vom Hochschwarzwald über das Voralpenland bis zum Bayerischen Wald treiben Pläne für Pumpspeicherkraftwerke oder Windräder viele Bürger auf die Barrikaden. Sie befürchten Umweltzerstörungen. Befürwortern gelten die Anlagen dagegen als wichtiges Element der Energiewende. Experten lenken den Blick auf das große Ganze: Zur Energiewende gehöre nicht nur die Speicherung überschüssiger erneuerbarer Energien, sondern auch der Ausbau der Stromnetze, die Ausrichtung der Industrieprozesse auf eine schwankende Energieversorgung, das Zusammenspiel aller Sektoren im Energiesystem, vom Verkehr über die Industrie bis zum Privathaushalt. Daher ist es auch politisch das Ziel, bis 2025 Energiekonzepte auf den Weg zu bringen, die nicht nur großtechnisch umgesetzt werden können, sondern auch die Akzeptanz der Bürger finden. Zu diesem Zweck wurde vor zwei Jahren das sog. Kopernikus-Projekt ins Leben gerufen.
Kopernikus-Projekte sollen helfen, Ökostrom jederzeit voll zu nutzen
Ein Schwerpunkt der Kopernikus-Projekte ist P2X. Hinter dieser Abkürzung für Power to X steht die Frage, wie sich auch direkt bei seiner Gewinnung nicht benötigter Ökostrom so nutzen lässt, dass er später oder außerhalb der Energieversorgung die Verbrennung fossiler Rohstoffe ersetzt. Nur so kann die Energiewende gelingen, deren Ziel das Vermeiden von CO2-Emissionen und ein Stopp der Erderwärmung ist. Kopernikus soll technische Voraussetzungen zur stofflichen Speicherung von 90 % der erneuerbaren Energie liefern, die künftig zur Verfügung steht, aber nicht akut gebraucht werden. Zu den wichtigeren P2X-Technologien zählen Verfahren, die mit Strom aus erneuerbaren Quellen chemische Grundstoffe, gasförmige Energieträger und Kraftstoffe erzeugen. Das entlastet die Netze und erlaubt eine nachhaltigere Herstellung von stofflichen Ressourcen – sie wären durch die Verwendung von CO2 aus Abgasen als Ausgangsstoff plus Strom aus Erneuerbaren klimaneutral.
Fossiler Kohlenstoff könnte als Grundstoff in der Produktion überflüssig werden
P2X-Technologien wie Power to Gas, Power to Liquids und vor allem Power to Chemicals werden gerade für die Chemieindustrie zum großen Thema. Mit im Überfluss vorhandenem und preiswertem Ökostrom können sie den Einsatz fossiler Rohstoffe wie Erdöl und Kohle nicht nur zur Energieversorgung, sondern auch als Material in der Produktion überflüssig machen (Kasten). „Eine große Chance sehe ich darin, mit den Grundstoffen Wasserstoff, Sauerstoff und Kohlenstoff die gesamte Palette der Grundchemikalien herzustellen“, nennt Rüdiger Eichel, Direktor des Instituts für Energie- und Klimaforschung am Forschungszentrum Jülich, eine Stoßrichtung seines Kopernikus-Projektes. „Power to X wird in Zukunft in allen Bereichen des Privatlebens und der Industrie eine Rolle spielen – auch wenn das Konzept bisher nur wenigen Menschen bekannt ist.“ Zumal sich mit P2X neue Chancen zu einer Kreislaufwirtschaft eröffnen, in der zunehmend recycelte Rohstoffe eingesetzt werden.
P2X erlaubt hohe CO2-Einsparung bei nachhaltiger Wertschöpfung
Betriebswirte und Wissenschaftler der Chemieindustrie sind mit den Grundlagen der P2X-Technologien vertraut – letztlich geht es stets um chemische Prozesse, bei denen mit hohem Energieaufwand entweder ein Ausgangsstoff in Bestandteile zerlegt wird oder via Synthese hochwertigere Verbindungen entstehen. Derzeit läuft das vor allem klassisch ab: Ein Steamcracker wird mit fossilen Rohstoffen gefüttert und spuckt etwa Ethen und Propen aus – Ausgangsverbindungen zur Herstellung von höherwertigen chemischen Verbindungen, die als Basis für viele Produkte dienen, von Kunststoffen über Fettlöser bis zu Vitaminen für Tierfutter. Durch Power to Chemicals, so die Kopernikus-Idee, könnten „konventionelle“ Steamcracker teils ersetzt werden, etwa mit grünem Synthesegas. Mit Strom aus regenerativen Quellen ließe sich das bei der Industrieproduktion und im Verkehr entstehende oder in der Luft im Überfluss vorhandene CO2 zum Rohstoff der Chemieproduktion machen. Letztlich ist egal, ob Kohlenstoff aus Erdöl, der Produktion anderer Verbindungen oder Luftfilterung stammt. Aktuell wird daran geforscht, CO2 sowie Wasser mit erneuerbarer Energie in Produkte umwandeln, die als Energieträger, Treibstoffe oder Bausteine für die chemische Industrie dienen. Dadurch werden neue Technologien und Geschäftsmodelle möglich.
P2X-Themen brachten schon innovative Lösungen oder Geschäftsmodelle
Dieser Aspekt der P2X-Technologien dürfte für viele Unternehmen der Branche künftig erhebliche Auswirkungen auf ihre Wettbewerbsfähigkeit, wenn nicht ihre Überlebensfähigkeit haben. Zwar steckt das Thema noch in der Forschungsphase, und es laufen zunächst erste Pilotanlagen – aber es geht bereits jetzt für jedes Unternehmen darum, die passenden Power-to-Chemicals-Konzepte zu identifizieren und die Voraussetzungen für ihren wirtschaftlichen Einsatz zu prüfen. Denn ein Blick auf andere P2X-Themen zeigt, wie schnell sich hier innovative Lösungen oder Geschäftsmodelle entwickeln und neue Anbieter um Marktanteile kämpfen, die unbelastet von alten Verfahren gleich auf Zukunftstechnologien setzen können.
Den Klimafußabdruck der gesamten Wertschöpfungskette verringern
Erfahrungen aus Power to Gas und Power to Liquids bringen auch Power to Chemicals voran. Ein Beispiel ist das Unternehmen Sunfire, Pionier bei P2L, das ein Verfahren entwickelt hat, mit dem Wasserstoff im Power to Liquids-Prozess effizient in Erdölersatz für Mobilität sowie den industriellen Einsatz verwandelt werden kann. Dabei ist die Umwandlung von Solar- und Windenergie in Wasserstoff nur ein erster Schritt. Potenziell könnte alles, was aus Rohöl hergestellt wird, auf Basis von Solarenergie, Wasser und Kohlendioxid produziert werden – von Kaugummis bis zum Turnschuh. Auch Covestro hat bereits in dem Bereich investiert: Mit Hilfe von CO2 gewinnt der Chemiekonzern eine neue Art von Polyolen – Bausteine der hochwertigen Schaumstoffklasse der Polyurethane, die unter anderem für Polstermöbel oder Autoteile verwendet werden. Zudem erforscht Covestro mit 13 Partnern im Projekt Carbon4PUR, wie bei der Stahlproduktion entstehendes Rauchgas zur Kunststoffherstellung genutzt werden kann. Insgesamt kann so der Klimafußabdruck der gesamten Wertschöpfungskette deutlich verringert werden.
Chemieindustrie muss die mit P2X verbundenen Fragen ernst nehmen
Managern in der Chemieindustrie stellen sich angesichts der wachsenden Bedeutung von P2X-Technologien gleich mehrere Fragen. Einmal die nach neuen Märkten: Bietet sich die Chance, bestehende oder neu zu entwickelnde Produkte zu liefern, mit denen bspw. Speicher, Filter oder chemische Verfahren verbessert werden können? Aber auch die nach neuen Strukturen: Entstehen in der Chemiebranche künftig dezentrale Standorte mit kleineren Produktionsanlagen wie bei den erneuerbaren Energien – und wie lassen sie sich diese mithilfe digitaler Technologien punktgenau steuern? Zudem stellt sich die Frage nach neuen Partnern oder Wettbewerbern: Welcher Industriekonzern, welches innovative Start-up, welche digitale Plattform kann die eigenen Stärken ergänzen, welcher Anbieter aus einer ganz anderen Branche mit neuen Ideen das derzeitige Geschäftsmodell torpedieren? Daraus folgen entscheidende Schlussfolgerungen: Welche Strategie, welche Produkte, welche Investitionen sichern die Zukunft des Unternehmens? Besonders wer heute in der Zuliefererkette für Zwischenprodukte arbeitet oder Tätigkeiten ausführt, die sich durch Energiewende und P2X-Technologien völlig verändern werden, muss sich neu erfinden. Auch wer heute den Bau einer chemischen Großanlage plant, die in zehn Jahren in Betrieb geht und 30 Jahre laufen soll, muss sich ebenfalls intensiv mit P2X-Szenarien beschäftigen.
Klimaneutrale Kreislaufwirtschaft und Ökostrom sind Paradigmenwechsel
Welche Veränderungen durch klimaneutrale Kreislaufwirtschaft und auf Ökostrom basierenden P2X-Technologien auf die Chemieindustrie zukommen, hat Accenture u. a. in der Studie „Taking the European Chemical Industry into the Circular Economy“ untersucht. Offen bleibt, inwieweit die Unternehmen in der Lage sind, auf die Veränderungen zu reagieren. Aktuell ist die chemische Industrie vor allem auf Kontinuität in der Grundversorgung mit Energie und Rohstoffen sowie in ihren Prozessen ausgerichtet. Durch die Energiewende und das umweltpolitische Ziel des Einstiegs in eine CO2-Kreislaufwirtschaft ist sie allerdings bald mit einer völlig neuen Art der Rohstoff- und Stromversorgung konfrontiert. Die chemische Industrie muss sich somit auf fluktuierende Rohstoffe und Energie als Grundlage einstellen.
Power to X
So macht Ökostrom alle Wirtschaftsbereiche grüner
Power to Heat: Strom wird für die Wärmeversorgung genutzt, etwa in Form von Elektroheizung, Wärmepumpe oder Fernwärmenetz. Durch den hohen Wirkungsgrad der Umwandlung von Strom in Wärme kann regenerativer Strom fossile Brennstoffe sehr gut ersetzen.
Power to Gas: Mithilfe von Strom aus regenerativen Energiequellen wird per Wasserelektrolyse und teilweise nachgeschalteter Methanisierung ein Gas synthetisiert, etwa Methan oder Wasserstoff. Es kann ins Gasnetz eingespeist, in Fahrzeugantrieben genutzt oder gelagert werden.
Power to Liquid: Elektrische Energie dient dazu, ein Synthesegas aus Kohlenstoffmonoxid und Wasserstoff herzustellen und aus diesem Gemisch dann einen flüssigen Kraftstoff zu gewinnen. So lassen sich Benzin und Diesel aus klassischer Erdölproduktion ersetzen.
Power to Chemicals: Zur Synthese (kohlen)wasserstoffbasierter Grundstoffchemikalien wird derzeit überwiegend Erdöl eingesetzt. Bei entsprechendem Energieaufwand – mit Strom aus erneuerbaren Quellen – lassen sich durch Elektrolyse von Wasser und der anschließenden Synthese des Wasserstoffs mit CO2 und Stickstoff chemische Grundstoffe wie Ethylen, Propylen oder Ammoniak herstellen, die als Ausgangsmaterial für weitere Prozesse dienen. Dies könnte die klassischen Steamcracker überflüssig machen, in denen aus Erdöl gewonnenes Naphtha in diverse für die Chemieindustrie wichtige Grundstoffe aufgespalten wird.
Power to Speicher: Strom wird direkt in Batterien aufbewahrt oder etwa zum Füllen von Speicherseen genutzt. Zurückgewinnen lässt er sich durch Anzapfen der Batterie, oder indem das hochgepumpte Wasser später eine Turbine antreibt und so einen Versorgungsengpass ausgleicht.
Accenture
Studie „Taking the European Chemical Industry into the Circular Economy“, 2017
Covestro
https://www.covestro.de/de/projects-and-cooperations/co2-project
http://press.covestro.com/news.nsf/id/europeans-join-forces-on-co2
Interview mit Rüdiger Eichel, Direktor des Instituts für Energie- und Klimaforschung IEK-9 am Forschungszentrum Jülich
https://www.kopernikus-projekte.de/projekte/power-to-x/interview-prof-eichel
Sunfire