Gesundheitsbranche auf den Kopf gestellt
Die Digitalisierung hat massive Auswirkungen auf die Pharmaindustrie. Interview mit Bayer-Vorstand Dieter Weinand
Die digitalen Entwicklungen in der Gesundheitsindustrie, verbunden mit einer immer älter werdenden Bevölkerung und einem enormen wissenschaftlichen Fortschritt, stellen Pharmaunternehmen vor neue Herausforderungen. Auf dem Weg zu neuen, effektiven Arzneimittel müssen sie aufpassen, den Anschluss an das explodierende Wissen und aktuelle Technologien nicht zu verlieren. Auch Bayer stellt sich in seiner umsatzstärksten Division Pharmaceuticals diesen Herausforderungen. Im Interview mit Thorsten Schüller erläutert Dieter Weinand, Leiter Pharmaceuticals und Vorstandsmitglied von Bayer, wie sich der Konzern angesichts der tiefgreifenden Veränderungen positioniert.
CHEManager: Herr Weinand, Googles Calico forscht an altersbedingten Krankheiten, Facebook-Gründer Mark Zuckerberg arbeitet an einem menschlichen Zellatlas, Samsung Biologics baut die weltweit größten biopharmazeutischen Produktionskapazitäten, auf und Amazon wirft ein Auge auf Arzneimittelvertrieb und Krankenversicherungen. Sind Sie mit Wettbewerbern konfrontiert, die die Spielregen in der Gesundheitsbranche komplett neu definieren?
Dieter Weinand: Die gesamte Gesundheitsbranche wird derzeit durch revolutionäre digitale Technologien und den wissenschaftlichen Fortschritt auf den Kopf gestellt. Die traditionelle biopharmazeutische Industrie steht damit an einem Scheideweg. Die Ankündigungen, dass Amazon in den Pharmamarkt einsteigt oder Roche Flatiron übernimmt, sind nur einige von vielen Veränderungsbeispielen aus jüngster Zeit. Die bahnbrechenden Fortschritte, die oft von kleineren digitalen Firmen mit ihren komplett neuen Ansätzen vorangetrieben werden, begünstigen die Entwicklung neuer Geschäftsmodelle in der pharmazeutischen Industrie und im Gesundheitswesen insgesamt.
Wie können Pharmaunternehmen in einem Umfeld, in dem Digitalisierung die Entwicklung wesentlich vorantreibt, Schritt halten und weiter wachsen?
D. Weinand: In unserem Unternehmen sind digitale Technologien ein integraler Bestandteil unseres Handelns. Die Entwicklung geht hin zu passgenauen, individuellen Angeboten, welche Diagnose, personalisierte Medizin und ergänzende digitale Unterstützung umfassen. Solche „beyond the pill“-Lösungen, die über das eigentliche Medikament hinausgehen, werden die Zukunft der medizinischen Versorgung prägen. Deshalb werden digitale Technologien und Anwendungen bereits in allen Phasen unseres Wertschöpfungsprozesses berücksichtigt - von der Forschung und Entwicklung über die Produktion bis hin zum Marktzugang.
Dementsprechend investieren wir in qualitativ hochwertige und leistungsstarke elektronische Plattformen, Software und Hardware. Darüber hinaus beschäftigen wir uns zunehmend mit bahnbrechenden Technologien wie künstlicher Intelligenz und maschinellem Lernen. In anderen Teilen des Gesundheitssystems sind diese Technologien ja bereits integriert und ergänzen die Arbeit der Menschen von der Kundenbetreuung über die Patientenberatung bis hin zur Diagnostik.
Welche Herausforderungen sehen Sie auf dem Weg in die digitale Pharmawelt?
D. Weinand: Unser zentrales Leitmotiv bei der Nutzung der digitalen Medien muss immer der Nutzen für die Patienten sein. Die Autonomie der Patienten kann durch digitale Dienste enorm gesteigert werden. Dabei müssen wir jedoch das Recht des Patienten beachten, dass er bestimmt, welche Informationen an wen weitergegeben werden.
Ein weiterer Aspekt, den ich nicht unbedingt als Herausforderung bezeichnen würde, sondern als offene Frage, die wir weiter verfolgen müssen, betrifft das Eigentum von Daten. Was bedeutet dies für derzeitige Angebote und Dienstleistungen? Die Übernahme von Flatiron durch Roche ist ein gutes Beispiel: Ist Roche heute eine Datenplattform, welche auch Medikamente herstellt, oder sind Krebstherapien nach wie vor das Hauptgeschäft? Ich bin sicher, dass wir in Zukunft noch mehr solcher Entwicklungen erleben werden, und wir müssen sie sorgfältig bewerten.
Eine weitere Herausforderung ist die alternde Bevölkerung. Die Menschen leben länger und brauchen mehr Gesundheitsfürsorge, was zu einem deutlichen Anstieg der Gesundheitsausgaben führt. Was bedeutet das für die Pharmaindustrie?
D. Weinand: Als Folge unserer alternden Gesellschaft sind in der Tat die Gesundheitsausgaben gestiegen und haben einen größeren Anteil am Bruttoinlandsprodukt als in der Vergangenheit. Allerdings sind die Kosten für innovative Medikamente dabei relativ stabil geblieben. Während sie etwa zehn Prozent der gesamten Gesundheitsausgaben ausmachen, beugen sie oft erheblich höheren Kosten vor, beispielsweise für einen Krankenhausaufenthalt oder eine Langzeitpflege.
Dennoch bleibt ein hoher medizinischer Bedarf.
D. Weinand: Ja. Die meisten Volkskrankheiten können heute zwar gut behandelt werden, aber die alternde Bevölkerung und die damit verbundenen epidemiologischen Veränderungen verlangen neue Therapien. Das hat zur Folge, dass der Mehrwert einer medizinischen Behandlung immer mehr in den Vordergrund rückt, und zwar zu Recht. Ich bin zuversichtlich, dass uns die zunehmende Digitalisierung, die Verfügbarkeit von Daten und der Einsatz von künstlicher Intelligenz in der Medizin in Zukunft eine große Chance bietet, bessere Therapien mit besseren Ergebnissen zu niedrigeren Kosten als je zuvor anzubieten. Dabei müssen Pharmaunternehmen, aber auch andere Akteure im Gesundheitswesen, zusammenarbeiten, um das gegenwärtige System weiterzuentwickeln, um diese Chance zu nutzen. Und die Ergebnisse sind stärker in den Mittelpunkt zu stellen, anstatt die Versorgung zu rationalisieren oder einzuschränken, wie es heute allzu oft der Fall ist.
Was bedeuten diese Veränderungen konkret für die Art und Weise, wie Unternehmen wie Bayer Forschung und Entwicklung betreiben?
D. Weinand: Durch die beschriebenen Entwicklungen hat sich auch der Fokus der Forscher verschoben. Ein Großteil des ungedeckten medizinischen Bedarfs wird in Zukunft auf Subpopulationen und seltene Krankheiten entfallen. Für Pharmaunternehmen bedeutet dies, dass überholte Geschäftsmodelle geändert werden müssen. Keine einzelne Organisation oder Firma kann heute noch über das nötige Wissen allein verfügen.
Wir müssen an vielen Stellen, wo Wissenschaft stattfindet, dabei sein. Es kommt darauf an, flexibler zu werden und sich den Zugang zur besten Wissenschaft zu erarbeiten. Es müssen Kooperationsnetzwerke mit akademischen Spitzenforschungszentren, anderen Unternehmen, einschließlich IT-Unternehmen und Kostenträgern, aufgebaut werden, und wir müssen die Art dieser Kooperationen ändern, um effektiv zu sein. Nur so können wir das Potenzial wissenschaftlicher Durchbrüche wie Gen-Bearbeitung oder Stammzelltherapien, unterstützt durch künstliche Intelligenz und maschinelles Lernen, ausschöpfen.
Pharmaunternehmen arbeiten heute also nicht nur zusammen, um ihre geografische oder kommerzielle Präsenz zu verbessern. Stattdessen bilden sie immer mehr Forschungskooperationen, um ihre Expertise, ihr Know-how, ihr geistiges Eigentum und ganze Portfolios zu bündeln. So ist beispielsweise bei Markteinführungen der Anteil von lizenzierten Medikamenten über alle Therapiegebiete hinweg höher als von Arzneimitteln, die von einem Unternehmen allein entwickelt worden sind.
Welche Wege hat Ihr Unternehmen beschritten, um einen besseren Zugang zu all dem externen Wissen zu erhalten?
D. Weinand: Vor kurzem haben wir bei Bayer zwei Joint Ventures zur Erforschung neuer wissenschaftlicher Ansätze gegründet. Eines davon, Casebia Therapeutics in Cambridge, Massachusetts, ist eine Partnerschaft mit CRISPR Therapeutics, die sich auf die Gen-Bearbeitung konzentriert. Ein weiteres Beispiel ist BlueRock Therapeutics, ein Joint Venture von Bayer und Versant Ventures im Bereich der Stammzellentechnologie.
Darüber hinaus bauen wir unsere breit angelegte, strategische Zusammenarbeit mit akademischen Institutionen weiter aus. Insgesamt kommen wir jetzt auf rund dreißig. Zu unseren Partnern zählen das vom Massachusetts Institute of Technology und Harvard betriebene Broad Institute in Cambridge, Massachusetts, oder das Deutsche Krebsforschungsinstitut. Dies sind weltweit führende Einrichtungen in der Biomedizin, insbesondere in der Genomforschung. Unsere erfolgreiche Zusammenarbeit mit ihnen hat bereits zu spannenden Fortschritten bei der Entdeckung von Krebsmedikamenten geführt.
Bayer unterhält im Bereich Pharma sogenannte „CoLaborator“-Einrichtungen in San Francisco und Berlin. Welche Erfahrungen haben Sie mit diesen Inkubatoren für Life-Science-Start-ups gemacht?
D. Weinand: Unsere CoLaborator-Einrichtungen in Berlin und in San Francisco sind gute Beispiele dafür, wie wir ein Ökosystem für innovative Ideen schaffen. Wir bieten jungen Unternehmen Labor- oder Büroräume auf unserem Forschungscampus an und sind für sie damit die erste Anlaufstelle bei der Suche nach potenziellen Kooperationspartnern in der Pharmaindustrie. So erhalten sie Zugang zu unserem Know-how und unserer Infrastruktur und schaffen ein ideales Umfeld, um Forschung und Innovation voranzutreiben. Wir haben sehr gute Erfahrungen mit diesen Formaten gemacht, da sie frische Aspekte unternehmerischen Denkens in unseren Konzern einbringen.
Wie sichern Sie die Rechte am geistigen Eigentum in Ihren Kooperationen?
D. Weinand: Geistiges Eigentum ist natürlich entscheidend für die Nachhaltigkeit forschender Pharmaunternehmen. Deshalb sind wir stets bestrebt, die Rechte am geistigen Eigentum zu sichern, die sich aus jedem Kooperationsprojekt ergeben. Dabei achten wir stets darauf, dass die Interessen aller an einem Projekt beteiligten Partner auf faire Weise gewahrt werden. Aufgrund der sehr unterschiedlichen Natur der Partnerschaften gibt es dafür allerdings keine einheitliche Lösung.
Ein Blick in die Zukunft: Wie wird die Behandlung der Patienten in 20 Jahren aussehen?
D. Weinand: In 20 Jahren wird die Gesundheit der Patienten durch tragbare Geräte überwacht werden. Dabei werden sämtliche Daten in Echtzeit heruntergeladen und mit allen anderen verfügbaren Informationen, die über den Patienten und seine Aktivitäten gesammelt werden, kombiniert. Außerdem wird man diese Daten mit denen von Millionen anderer Patienten vergleichen, um sofortige Rückschlüsse auf die Gesundheit der betreffenden Menschen ziehen zu können. Der Patient wird also über sein Smartphone von einem Supercomputer mit künstlicher Intelligenz diagnostiziert und alarmiert, der über weitaus mehr Wissen und Rechenleistung verfügt als jeder einzelne Arzt. Der Patient wird über sein Smartphone auch einen Behandlungsplan erhalten, und die Medikamente werden ihm ins Büro oder nach Hause geliefert werden.
Gibt es bereits heute ein Beispiel für diese Entwicklung?
D. Weinand: IBM Watson hat bei der Diagnose von Lungenkrebs eine höhere Treffsicherheit als Ärzte gezeigt. Mit einer Genauigkeit von 90 Prozent übertrifft das System die durchschnittlichen 50 Prozent beim Menschen. Dies erfordert ein Umdenken in der Art und Weise, wie wir als Unternehmen mit Patienten, Kostenträgern, Leistungserbringern im Gesundheitswesen und der künstlichen Intelligenz umgehen.
Aber nicht nur Unternehmen werden Veränderungen erleben. Ebenso interessant wird es sein, zu sehen, wie sich die Rolle des Arztes entwickeln wird. So kann beispielsweise der intelligente Lautsprecher von Amazon bereits bei Wiederbelebungsmaßnahmen helfen, indem er das Tempo für eine Herzmassage vorgibt oder Notrufe sendet. Es ist durchaus möglich, dass Ihre nächste Krankenschwester oder Ihr nächster Arzt den Namen „Alexa“ trägt.