Forschung & Innovation

Was wir voneinander lernen

Wissenschaft und Praxis in der Chemie und ihren Nachbardisziplinen

27.06.2017 -

Den Beitrag der Chemie für ihre Nachbardisziplinen sowie die Schnittmenge von Wissenschaft und Praxis und ihre Bedeutung für die Gesellschaft und ihre Zukunft zeigt die Präsidentin der GDCh auf.

Die Zukunft ist in Jubiläumsjahren immer ein wichtiges Thema. Beim Geburtstagsfest meiner Freundin widmeten sich die Gratulanten deren Zukunftsplänen und wenn die GDCh in diesem Jahr den 150. Jahrestag der Gründung der Deutschen Chemischen Gesellschaft feiert, nehmen wir gerade das zum Anlass, über die zukünftige Rolle von GDCh und Chemie nachzudenken. Die GDCh hat als eine der größten chemischen Fachgesellschaften der Welt für die Entwicklung der Chemie einige Bedeutung. Ihre Mitglieder vertreten das Fach in aller Breite, sozusagen von A wie Allergen bis Z wie Zeolith. Die GDCh fördert die chemische Bildung von der Schule bis in die Universität und darüber hinaus und sie beheimatet chemische Expertise von der Grundlagenforschung bis zur Anwendung, in Wissenschaft und Wirtschaft. Auf der Homepage der GDCh ist ein Überblick über die Vielfältigkeit ihrer Fachstrukturen grafisch dem Periodensystem der Elemente nachempfunden, eine passende Metapher für die weite Welt der chemischen Wissenschaft. Darin können Elemente einander so fremd sein wie das Eisen dem Neon. Die hohe Differenzierung der chemischen Disziplinen führt häufig dazu, dass der eine Chemiker gar nicht versteht, wovon die andere Chemikerin redet. Ganz zu schweigen von den Verständigungsschwierigkeiten zwischen Chemikern und Ingenieuren, darunter die Leserschaft von CITplus, dem Praxismagazin für Verfahrens- und Chemieingenieure. Aber gerade mit wissenschaftlichen Zeitschriften pflegen wir die Kultur der Information und Kommunikation, um auch über Grenzen hinweg Fortschritt anzubahnen. Dazu tragen auch Fachgesellschaften wie die GDCh bei, die eine breite Plattform für intensiven Austausch schafft und so Kommunikation auch interdisziplinär fruchtbar werden lässt.

Interdisziplinäre Kommunikation kann gelingen
Dass interdisziplinäre Kommunikation gelingen kann, habe ich mit meiner netten ostfriesischen Partybekanntschaft erlebt. Sehr angeregt haben wir uns über Verbrennungsmotoren unterhalten, nicht nur, weil der eine dafür Spezialist ist und die andere einen Diesel fährt, den die Politik aus dem alltäglichen Gebrauch verbannen will. Sondern auch, weil ich zuletzt einen Übersichtsartikel in der berühmten Schwesternzeitschrift der CITplus, der Angewandten Chemie las mit dem Titel „Synthese, motorische Verbrennung, Emissionen: Chemische Aspekte des Kraftstoffdesigns“. Es ist einfach faszinierend, wie kompliziert die Chemie der Verbrennung ist, wie diffizil die technische Umsetzung chemischer Erkenntnisse und wie interdisziplinär diese Thematik verankert und mit Politik und Gesellschaft verwoben ist.
Man muss keine Hellseherin sein, um zu prognostizieren, dass Interdisziplinarität und Transdisziplinarität, sowie die Kommunikation mit der Gesellschaft in Zukunft noch wichtiger sein werden als bisher. Die Forschungsprojekte von Chemikerinnen und Chemikern durchqueren bereits heute häufig auch die Gebiete von Physik, Biologie, Medizin, Geologie, Materialwissenschaften oder Ingenieurwesen. Energiegewinnung und -speicherung, Umwelttechnologie, Medikamente, intelligente Materialien, Rohstoffnutzung, Katalyse, Biotechnologie, Datenanalyse und Zukunftssimulation, das sind inzwischen alles ineinandergreifende Themenfelder in denen die Chemie eine zentrale Querschnittswissenschaft ist. Das wird sozusagen von Ostfriesland bis Bayern nach nur einem guten Partygespräch jedem unmittelbar klar.
Jedoch die Implikationen, die sich mit der Chemie als der zentralen Wissenschaft für molekulare Eigenschaften und Reaktionen verbinden, liegen nicht immer gleich auf der Hand und wiegen schwer. Der Chemie kommt entsprechend ihrer Bedeutung eine umfängliche globale Verantwortung zu. Sie muss in einer immer dichter bevölkerten Welt nicht nur für den erwünschten materiellen Wohlstand sorgen, sondern auch dafür, dass künftige Generationen damit fertig werden. Dass kommende Gesellschaften auf das Wissen, das wir heute erarbeiten, aufbauen können und nicht hauptsächlich mit der Bewältigung unerwünschter Nebenwirkungen beschäftigt sein werden. Denn die Welt der praktischen Produkte birgt das offensichtliche Problem, dass alles, was wir herstellen, eines Tages zu Abfall wird. Entweder haben wir ein Produkt so entworfen, dass die Natur am Ende seines Lebenszyklus damit fertig wird; oder wir müssen selbst für die Rezyklisierung sorgen. Wir müssen dafür sorgen, dass unsere Welt in ihren Produkten nicht ertrinkt oder daran erstickt. Wer z. B. den Film „A Plastic Ocean“, der seit Januar 2017 weltweit in den Kinos läuft, gesehen hat, weiß, wovon die Rede ist. Das Plastik, das wir über Jahrzehnte produziert haben, ist nicht nachhaltig. Es fällt uns heute mit einem riesigen Knall auf die Füße. In den Weltmeeren ist es bereits überall verteilt und bringt vielen Lebewesen den Tod. Wir müssen uns das Desaster bewusstmachen und es in Zukunft besser machen; auf der nächsten Party ohne Plastik feiern (hat meine Freundin beherzigt!); und als Chemiker und Ingenieure Verantwortung für eine lebenswerte Zukunft für alle Menschen übernehmen. Das sind wir der Würde des Menschseins schuldig. Wenn Millionen auf Bergen von Plunder, auf stinkendem Müll und giftigen Ausflüssen unserer modernen Technologie leben müssen, dann können wir uns nicht abwenden.

17 Ziele für nachhaltige Entwicklung
Dann können wir nicht den Elfenbeinturm unserer Universitäten von innen abschließen, es uns bequem machen in der Wohnzimmerübersichtlichkeit unserer eigenen Expertise oder uns zurückziehen hinter die Demarkationslinie unserer Spezialdisziplin. Dann müssen wir neu nachdenken, darüber, wie wir Wissenschaft und Praxis so verbinden, dass Fortschritt nachhaltig ist und nicht die Schönheit der Natur, in der wir leben, zerstört. Ende 2015 haben die Vereinten Nationen (UN) dazu 17 Ziele für nachhaltige Entwicklung formuliert und damit die Ziellinie für die Lösung der großen globalen Herausforderungen unserer Zeit markiert. Diese Ziellinie wird ohne das Wissen der Chemie, ohne weiteren Fortschritt in unserer Wissenschaft und ohne die Fähigkeit zur interdisziplinären und transdiziplinären Kooperation nicht zu erreichen sein. Auch GDCh-Mitglieder haben mit ihren Kollegen aus aller Welt darüber nachgedacht und publizieren dazu z. B. unter der passenden Überschrift „One-World Chemistry“ (www.oneworldchemistry.org).
Das Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit (BMUB) hat kürzlich mit der Gründung eines Kompetenzzentrums für Nachhaltige Chemie, dem ISC3, für die Chemie eine Triebfeder für die Erreichung der UN-Nachhaltigkeitsziele auch in Schwellen- und Entwicklungsländern gespannt und seine Initiative ganz bewusst interdisziplinär, international und kulturschaffend angelegt.
Eine besondere Rolle und Verantwortung kommt bei der Unterstützung solcher integrierten Anstrengungen für den globalen Fortschritt und für eine bessere Zukunft Fachgesellschaften wie der GDCh zu. Sie verbinden Wissen und Generationen und vernetzen Menschen auch über geografische und politische Grenzen hinweg.
So pflegt die GDCh Kontakte zu chemischen Gesellschaften in aller Welt. Sie ist einer der größten Partner der European Association of Chemical and Molecular Sciences (EuCheMS) und natürlich auch Mitglied der Chemical Publishing Society Europe (ChemPubSoc Europe), in der sich europäische chemische Gesellschaften aus 15 Ländern in gemeinsamer Publikationstätigkeit zusammengeschlossen haben. In Fachgruppen wie „Bioinformatik“ und „Chemische Biologie“ hat sich die GDCh disziplinübergreifend mit anderen wissenschaftlichen Gesellschaften vernetzt, mit der Dechema, der GBM, der Gesellschaft für Informatik und der Deutschen Pharmazeutischen Gesellschaft.

Auch das Feiern verbindet
Der Ostfriese in Lederhosen wusste weit mehr von alledem, als ich jemals für möglich gehalten hätte. Merke, der Ruf der Chemie ist besser als wir denken! Doch wollten wir nicht den ganzen Abend mit den interdisziplinärem Problemen des Verbrennungsmotors zubringen. Vielmehr waren wir froh, dass andererseits zum Thema der Gärung Wissenschaft und Praxis bereits zu einer überzeugenden Reife gelangt sind: Jemand hatte genügend Bier nach den Regeln der Kunst gebraut und in einem verfahrenstechnisch einwandfreien Kühlschrank auf die richtige Trinktemperatur gebracht. So konnten wir auf das 20. Jubiläum des Magazins CITplus anstoßen, das auf einer Geburtstagesparty Anlass für ein anregendes interdisziplinäres Gespräch zwischen einer Chemikerin und einem Ingenieur gegeben hatte. Ein nachhaltiger Erfolg!
Ich gratuliere CITplus herzlich zum Jubiläum und würde mich freuen, möglichst viele Verfahrens- und Chemieingenieure auf dem Wissenschaftsforum der GDCh im September in Berlin begrüßen zu dürfen, wenn wir das 150. Jubiläum der Deutschen Chemischen Gesellschaft feiern (www.wifo2017.de).

Kontakt

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