Logistik & Supply Chain

Chemielogistik: Wertschöpfungsstufen und Perspektiven

Aktuelle BVL-Studie gibt umfassende Einblicke in die Chemielogistik (Teil 3)

19.11.2013 -

Die Supply Chains in der Chemiebranche sind sehr heterogen. Zahlreiche Verflechtungen innerhalb der Branche erschweren eine Normierung von Wertschöpfungsketten.

Teil 1 ist erschienen in CHEManager 17/2013.
Teil 2 ist erschienen in CHEManager 19/2013.

Wertschöpfungsstufen

Ausgangspunkt der chemischen Produktion sind anorganische und organische Rohstoffe. Vor allem die mineralölverarbeitende Industrie hat als Lieferant für organische Rohstoffe eine zentrale Bedeutung. Auf der Ursprungsseite - der chemischen Industrie - dominieren also Bulk-Güter. Sie werden in Tankschiffen und Schüttgutfrachtern (See- und Binnenschiff), Pipelines und Förderbändern, offenen Güterwagen und Kesselwagen der Eisenbahn sowie in geringem Umfang mit entsprechenden Lkw transportiert.

Auf der anderen Seite der Wertschöpfungskette sind die Abnehmerbranchen in drei Hauptmärkte zu unterteilen:

- chemienahe Industrien: verarbeiten chemische Produkte direkt weiter (z.B. kunststoff-verarbeitende Industrie)
- chemieferne Industrien: Chemieindustrie liefert verschiedenste technische Stoffe aus der Spezialchemie und Basischemie (z.B. Farben und Lacke)
- Konsumgütermarkt: chemische Erzeugnisse gehen direkt an den Endkonsumenten (z.B. Wasch- und Reinigungsmittel)

Die chemische Industrie lässt sich in die drei prinzipiellen Stufen chemische Rohstoffe/ Petrochemie, chemische Grundstoffe/ Basischemikalien/ Commodities und chemische Endprodukte/ Spezialitäten einteilen. Mit der zunehmenden Auffächerung der chemischen Produkte in Richtung Endkunden sinken die Sendungsmengen bzw. werden kleinere Gebinde transportiert. Gleichzeitig - getrieben durch die Anforderungen im Umgang mit chemischen Erzeugnissen in chemiefernen Branchen und beim Endkunden - sinkt tendenziell auch die Gefährlichkeit der transportierten Einheiten. In Richtung Endkunde nimmt sowohl die Affinität der Güter zu massenfähigen Transportmitteln als auch der Anteil an Gütern mit spezifischen Handling-Vorschriften (Gefahrgut) ab.

Erfolgskritische Perspektiven

Die zahlreichen Anforderungen an und Sichtweisen auf die Chemielogistik lassen sich in fünf erfolgskritischen Perspektiven zusammenfassen. Diese Perspektiven dienen zum einen der Einschätzung des Entwicklungsgrades der Chemielogistik-Branche als Ganzes. Zum anderen lassen sie sich als konzeptionelle Gradmesser für die einzelnen Akteure der Chemielogistik nutzen, denn sie zeigen inwieweit diese Parameter in der idealen Ausgestaltung die eigenen Geschäftsmodelle abdecken.

1. Perspektive Chemische Industrie-/Verlader-Anforderungen

Unterschiedliche Chemie-Geschäftsmodelle haben sehr spezifische Anforderungen an die Chemielogistik. Geschäftsmodelle in der chemischen Industrie sind: Preisinduziertes Geschäftsmodell, Service- und Portfolio-differenzierendes Geschäftsmodell, Innovations-leitendes Geschäftsmodell oder Dienstleistendes Geschäftsmodell (Handel, Industriedienstleistung). Die Geschäftsmodelle lassen sich nach den Kriterien Produktionssystem, Struktur Abnehmermarkt, Kernerfolgsfaktoren und Supply Chain Struktur differenzieren. Aus der Sicht der Logistik ergeben sich bei den Chemieproduzenten je nach Geschäftsmodell spezifische Logistikstrategien.

2. Strukturelle Perspektive der Informations-/Finanzen- und Warenströme

Die chemischen Wertschöpfungsketten sind bipolar geprägt: Zum einen sind die chemischen Supply Chains global ausgerichtet und die meisten chemischen Produkte einem internationalen Wettbewerb (Zulieferer/ Abnehmer) ausgesetzt. Zum anderen ist die chemische Industrie sehr lokal bzw. regional aufgestellt, da die Produktion grundsätzlich an geschlossenen Industriestandorten stattfindet.
Die Herausforderung besteht darin, alle unterschiedlichen Partner der gesamten Kette mit ihren jeweiligen Interessen einzubinden. Die beteiligten Partner sind: die Industrie aus Sicht des Betriebsleiters, der Einkäufer, Customer Service und/ oder Supply Chain Manager des chemischen Unternehmens, die Logistikdienstleister/ Infrastrukturbetreiber, die Standortlogistiker und der Chemiestandortmanager.

3. Management-Perspektive

Die Chemielogistik ist heute noch in weiten Bereichen geprägt von einem operativen Denken auf Transport- oder Lager-Ebene. Dabei wünschen sich die Beteiligten auch hinsichtlich der Management-Perspektiven ein durchgängiges Denken. Neben der operativen Ausführungsebene müssen die Planungs- und Steuerung-Ebene als auch die Ebene der strategischen Gestaltung des Netzwerkes einbezogen werden.

4. Prozessuale Perspektive

In der prozessualen Perspektive werden alle logistischen Aktivitäten betrachtet, die zur operativen und strategischen Sicherstellung der Ver- und Entsorgung der Produktion chemischer Rohstoffe, Vor-/Zwischen-/Fertigprodukte, Betriebsmittel/-stoffe und Abfälle, der Planung und Steuerung der Wertschöpfungskette sowie der Versorgung von Kunden mit Fertigprodukten und Musterprodukten auf allen Verkehrswegen notwendig sind. Es lassen sich, je nach Geschäftsmodell, bis zu sechs erfolgskritische Prozesse identifizieren: Beschaffungslogistik, Produktionslogistik, Distributionslogistik, Dienstleister-Management, Innovations-/Kostenmanagement und Logistik-Strategie. Diese Prozessstruktur hilft dabei, durchgängige Verantwortlichkeiten auf Prozessebene für die Erfassung des Kunden-/Internen-Bedürfnisses - bis hin zur dessen vollständiger Befriedigung - zu schaffen.

5. Perspektive der Besonderheiten

Die Chemielogistik besitzt eine Reihe besonderer Anforderungen, die Auswirkungen auf die Gestaltung der Wertschöpfungsketten und die Zusammenarbeit haben. Hierzu zählen Anforderungen an den Umgang mit Gefahrstoffen/-gütern sowie temperaturgeführten Gütern, Equipment und die Assets (Zusammenlagerung/-transport, Dedicated), direkter Verbund zwischen Rohstoff, Vor-, Zwischen- und Fertigprodukt, internationale Ausrichtung sowie geschlossene Produktionssysteme. Diese Besonderheiten der Chemielogistik führen zu erheblichen Markteintrittsgrenzen für Logistikdienstleister bzw. ermöglichen Differenzierungsansätze und damit erfolgreiche unterschiedliche Geschäftsmodelle.


Hohe Anforderungen an Safety und Security

Interview mit Prof. Dr. Thomas Krupp, Europäische Fachhochschule (EUFH)

CHEManager: Welche Rolle spielt das Thema „Gefahrstoff/Gefahrgut" innerhalb der Wertschöpfungsstufen der chemischen Industrie?

Prof. Dr. T. Krupp: Das Thema „Gefahrgut/Gefahrstoff" wird oft als die zentrale Besonderheit der Chemielogistik gesehen. Das teilweise hohe Gefährdungspotential chemischer Erzeugnisse bedingt, dass die Anforderungen an Safety und Security für alle Akteure der chemischen Wertschöpfungsketten besonders hoch sind. Für Logistikdienstleister bedeutet dies, dass die Eintrittsbarrieren in den Markt entsprechend hoch sind. Dem in Logistikpartnerschaften ohnehin wichtigen Vertrauen in die Leistungsfähigkeit, sprich dem spezifischen Know-how beim Handling chemischer Erzeugnisse mit Gefährdungspotential, und der Leistungsbereitschaft kommt in den - gerade auch in der öffentlichen Wahrnehmung - sehr sensiblen Logistikketten der Chemie eine herausragende Bedeutung zu.
Gleichzeitig lassen sich chemische Erzeugnisse mit spezifischen Handling-Vorschriften von den Dienstleistern, wenn überhaupt nur mit erheblichem Aufwand, in standardisierte Logistiksysteme, z.B. KEP oder Stückgut, integrieren. Von den in 2011 durch deutsche Unternehmen transportierten Chemielogistik-Tonnagen in Höhe von 501 Mio. t sind ca. 75% Gefahrgut - davon 35% Straße, 17% Schiene, 25% Binnen-/Seeschiff und 23% Pipeline. Für die chemische Industrie als Verlader heißt das, dass bei der Auswahl und der Steuerung der Dienstleister besondere Aufmerksamkeit an den Tag gelegt werden muss.


In welcher Weise beeinflusst die zunehmende Verlagerung oder Verlängerung der Supply Chain (SC) auf die Länder der Gewinnung von Rohstoffen bzw. der Urproduktion die Chemielogistik als Ganzes gesehen?

Prof. Dr. T. Krupp: Die physische Ausdehnung der SC führt zu längeren Transportketten, die entsprechend sensibler und störanfälliger sind. Gleichzeitig verändern sich die Sendungsstrukturen: Während traditionell insbesondere der Rohstoff Öl als Bulk vorwiegend in Tankern oder Pipelines über lange Wege transportiert werden muss, sind die globalen Warenströme durch die zunehmende Wertschöpfung in den Erzeugerländern zunehmend differenziert.
Konsequenz sind z.T. deutlich geänderte Anforderungen an die Logistik. So werden die Themen Safety und Security aber auch das Risikomanagement mit entsprechender Planung von Szenarien für die physisch ausgedehnte SC deutlich wichtiger. Gleichzeitig resultiert diese Entwicklung auch in zunehmend differenzierten Anforderungen an Transport und Lagerung der Input-Güter, die auf den Weltmärkten für die deutsche Industrie zugekauft werden. Auch im globalen Kontext wachsen die Bedeutung und der Wertschöpfungsbeitrag der Logistik, zukünftig wird die Nachfrage nach logistischen Serviceleistungen auch auf der Inbound-Seite der deutschen Chemieindustrie zunehmen.


Etwa die Hälfte des Umsatzes der chemischen Industrie wird innerhalb der Branche erwirtschaftet. Welchen Einfluss hat dies auf die Wertschöpfungskette?

Prof. Dr. T. Krupp: Die logistischen Verflechtungen innerhalb der Branche sind eine weitere augenscheinliche Besonderheit der Chemielogistik. Die Chemieparks sind ein deutlich sichtbares Resultat dieser engen Verflechtungen der Branche - die Notwendigkeit der Verteilung der Rohstoffe, Zwischen- und Fertigprodukte zwischen den einzelnen Produktionsstufen machen lokale Verbünde sinnvoll. In diesen Verbünden sind die logistischen Verknüpfungen oftmals etwa in Form von Rohrleitungen fest installiert, aber auch Vorgänge der „klassischen" Transport- Lager und Umschlaglogistik finden hier statt - etwa Rohstoff- und Fertigwarenlager.
Diese Standorte wiederum müssen logistisch verbunden werden. Regionale Verflechtungen der Branche führen zur Herausbildung regionaler Strukturen, sprich Chemie-Clustern, wie z.B. die Chemieregion Rheinland oder das mitteldeutsche Chemie-Cluster. Auch diese Chemie-Cluster werden als Chemie-Hubs überregional und eben global miteinander verknüpft. Für die Logistikdienstleister bedeutet dies, dass entscheidende Erfolgsfaktoren zum einen die Nähe zu den Chemielogistik-Standorten, zum anderen aber die Fähigkeit zur Verknüpfung dieser Standorte und der Chemie-Hubs sind.