Mit Simulationsprogrammen optimiert Wacker Verfahren und Moleküle
23.11.2011 -
Mit Simulationsprogrammen lassen sich am Computer chemische Prozesse nachvollziehen - von der Temperaturverteilung in einer Siliciumschmelze bis zur Polymerisation von Vinylacetat und Ethylen. Der Chemiekonzern Wacker nutzt Simulationen dazu, im Labor entwickelte Verfahren auf kostensparende Weise in den großtechnischen Maßstab zu übertragen, aber auch zur Berechnung von Molekülgeometrien, um die Eigenschaften von chemischen Verbindungen vorherzusagen.
„Die Geometrie eines Moleküls - d.h. seine dreidimensionale Struktur - hat ganz entscheidende Auswirkungen auf seine Eigenschaften", berichtet Dr. Jutta Köhler. Sie ist Expertin für die Modellierung von Molekülen am Consortium, der zentralen Forschungseinrichtung des Wacker-Konzerns. Für die Entwicklung neuer chemischer Produkte ist es sehr interessant zu wissen, wie ein Molekül tatsächlich auf molekularer Ebene aussieht. Das ist aber alles andere als einfach, denn die Bindungslängen der einzelnen Moleküle liegen im Ångström-Bereich, das heißt bei 10-10 m.
Extrem teure und aufwändige Messverfahren erübrigen sich in vielen Fällen, in denen man mit theoretischen Methoden die Molekülgeometrien berechnen kann. Zusätzlich können andere, nicht messbare Parameter - z.B. Ladungsverteilungen - berechnet werden; sie ergänzen das experimentelle Wissen.
Je nach Größe der simulierten Moleküle, Monomere, Polymere oder Kristalle und der gewünschten Genauigkeit der Ergebnisse kommen für die Simulationen einfache Workstations, PC-Cluster oder sogar Supercomputer zum Einsatz. Spielen auch die Wechselwirkungen zwischen Molekül und Lösungsmittel eine Rolle, wird der Rechenaufwand höher. Die simulierten Eigenschaften der Molekülmodelle lassen Trends erkennen, wie sich ein neues oder umgestaltetes Molekül später in der Realität verhalten wird.
Molekülmodelle konstruieren
Gerade bei Cyclodextrinen ist die Geometrie von entscheidender Bedeutung. Cyclodextrine bestehen aus mehreren, zu einem Ring verknüpften Glucosebausteinen. Sie sind so angeordnet, dass sich in ihrem Innern ein lipophiler, also fettfreundlicher Hohlraum ergibt. Dieser Hohlraum kann ein anderes lipophiles Molekül aufnehmen und unter bestimmten Bedingungen wieder freisetzen. Cyclodextrine kommen z.B. in Hautcremes zum Einsatz, um empfindliche Wirkstoffe vor Sonnenlicht oder Luftkontakt zu schützen und sie wasserlöslich zu machen. Die Kunst dabei ist, ein Cyclodextrin herzustellen, dessen Hohlraum exakt so groß ist, dass ein Gastmolekül genau hineinpasst. Hier kommen Simulationen ins Spiel.
Am Computermonitor konstruieren Dr. Jutta Köhler und ihre Mitarbeiter mehrere Molekülmodelle. Dabei werden deren Atome so zusammengesetzt, dass die Atombindungen allen chemischen Strukturanforderungen des gewünschten Moleküls genügen. Diese Molekülmodelle werden dann in molekulardynamischen Simulationen und/oder quantenmechanischen Berechnungen simuliert/optimiert. Die natürlichen Bewegungen der Atome und Moleküle in Abhängigkeit von Temperatur und vielen anderen Faktoren werden dabei sichtbar. Das beste Molekülmodell wird im Experiment getestet.
Für die Cyclodextrine ist aber nicht nur ihre Größe, die sich nach der Zahl der Glucoseeinheiten (α-, β-, γ- oder gar δ-Cyclodextrine) bemisst, von Bedeutung. Auch ihre Flexibilität spielt für die Komplexbildung eine Rolle. Genau das können die Forscher am Monitor beobachten, wenn sie die umfangreichen Daten aus den Molekulardynamik-Simulationen analysieren. So erhalten sie wichtige Erkenntnisse, aus denen später neue Produkte entstehen können.
Simulation im Werksalltag
Dr. Thomas Frey und sein Team von Process Development and Productivity, einer Abteilung der Zentralen Ingenieurtechnik in Burghausen, haben sehr viel handfestere Herausforderungen. „Wenn wir ein neues Produkt im großtechnischen Maßstab herstellen wollen, können wir nicht einfach einen erfolgreichen Versuch aus dem Labor hernehmen und ihn mit einem beliebigen Faktor multiplizieren." Beim Scale-up stellen sich eine ganze Reihe Fragen, deren sichere Beantwortung mit darüber entscheidet, ob ein gutes Produkt auch kommerziell erfolgreich ist. Was ist im großtechnischen Maßstab der optimale Katalysator? Welche Apparate sollten am besten zum Einsatz kommen? Wie sieht die optimale Geometrie eines Reaktors aus, um bei maximaler Effizienz produzieren zu können?
„Gerade im frühen Stadium einer konkreten Anlagenplanung können wir den Kollegen mit unseren Simulationsverfahren wichtige Hinweise liefern", sagt Dr. Frey. Schließlich wäre es fatal, wenn sich nach mehreren Millionen Euro Investitionen herausstellen würde, dass eine Anlage nicht optimal arbeitet. Darum simulieren Dr. Frey und seine Mitarbeiter einzelne Elemente oder gleich ganze Anlagen vorher im Computer, um eventuelle Schwachstellen schon im Vorhinein auszuschließen. Kooperation mit allen am Planungsprozess Beteiligten ist dabei besonders wichtig. „Das beste Simulationsprogramm liefert keine guten Ergebnisse, wenn die Ausgangsparameter nicht stimmen und das der Simulation zugrunde liegende Modell nicht stimmig ist."
Prozessoptimierung
Aber nicht nur bei der Planung von neuen Anlagen kommen Simulationen zur Anwendung. Auch wenn es darum geht, noch das letzte Quäntchen aus einem Produktionsverfahren herauszuholen. So können mittlerweile fast alle bei Wacker im Einsatz befindlichen grundlegenden Produktionsverfahren simuliert werden. Von der Vinylacetatmomomer (VAM)-Produktion über den Müller-Rochow-Prozess bis zu Fermentationsprozessen z.B. für Cystein. Statt also Millionen Euro für eine Versuchsanlage auszugeben, werden verschiedene Simulationsprogramme verwendet, mit denen der gesamte Prozess nachgebildet und optimiert werden kann.
Je nach Fragestellung kommen dabei die verschiedensten Techniken zum Einsatz: Neben Simulationen zur Fluiddynamik, also der Bewegung von Festkörpern, Flüssigkeiten und Gasen in einem definierten Raum, müssen auch die dort stattfindenden chemischen Reaktionen im Detail simuliert werden, um konkrete Vorschläge für Prozessoptimierungen machen zu können. Diese Vorschläge werden je nach Umfang entweder direkt im Betrieb oder in Technikumsanlagen verifiziert. Die Ergebnisse aus den Versuchen können dann auch verwendet werden, um die Simulation zu verfeinern. So ergänzen sich Modell und Betriebsrealität gegenseitig.
Diese Technik kommt aber nicht nur zum Einsatz, wenn es darum geht, das Optimum aus einer Anlage herauszuholen. In der virtuellen Welt der Simulationen lassen sich auch gefahrlos kritische Szenarien durchspielen. Davon profitieren die künftigen Anlagenfahrer von Wacker. Am Trainingssimulator im Berufsbildungswerk (BBIW), der Ausbildungseinrichtung von Wacker in Burghausen, liefert eine dynamische Prozesssimulation ein exaktes Abbild einer realen Anlage. Die Regelung und Steuerung der Anlage ist an ein echtes Leitsystem gekoppelt. Ähnlich wie Piloten von Verkehrsflugzeugen können die Mitarbeiter hier kritische Situationen gefahrlos durchspielen und lernen so, wie sie sich im Ernstfall richtig verhalten.
Im Inneren der Siliciumschmelze
Dr. Lev Kadinski leitet die Simulationsgruppe von Siltronic. Das Tochterunternehmen von Wacker stellt ultrareine Siliciumwafer für die Halbleiterindustrie her. Dazu muss zunächst polykristallines Silicium eingeschmolzen werden, um es im nächsten Schritt im Czochralski-Verfahren zu Stäben mit einkristalliner Struktur (sogenannten Ingots) zu ziehen.
Das ist ein extrem komplexer Vorgang. Nur kleinste Veränderungen an der Geometrie der Maschine, der Drehgeschwindigkeit, der Temperatur der Siliciumschmelze oder ein paar Dutzend anderer Parameter kann massive Auswirkungen auf die Qualität der späteren Wafer haben. Weisen die Ingots nur kleinste Fehler in der Kristallstruktur auf, sind sie für moderne Prozessoren oder Speicherchips unbrauchbar. Gleichzeitig ist der Innovationsdruck sehr hoch. „Unsere Technologen müssen eine Menge neuer Ideen probieren, um da Schritt zu halten", sagt Dr. Kadinski. Doch was im Inneren der mehr als 1.400°C heißen Siliciumschmelze passiert, lässt sich nicht messen. Darum kommt auch hier ein Simulationsverfahren zum Einsatz. Die Wissenschaftler haben im Computer ein Modell ihrer Kristallzuchtanlagen aufgebaut, anhand dessen die Entwickler von Siltronic neue Ideen durchspielen, bevor sie diese in der Realität ausprobieren.
Bei den Simulationen geht es darum, dem Entwickler eine Richtung zu weisen, die er dann in einem realen Experiment einschlagen kann. Simulation ist für Wacker ein effizientes Hilfsmittel, um neue Produkte zu entwickeln, sie noch besser zu machen oder einen Produktionsprozess effizienter zu gestalten.