Chemielogistik: „Es gibt nicht die „eine“ Lösung“
Aktuelle BVL-Studie gibt umfassende Einblicke in die Chemielogistik (Teil 1)
Die erste reine Studie zur Chemielogistik liegt seit Mitte 2013 vor. Im Auftrag der Bundesvereinigung Logistik BVL hat sich eine fünfköpfige Gruppe von Wissenschaftlern, die Kompetenzgruppe Chemielogistik, intensiv mit dem Zusammenspiel von Chemie und Logistik beschäftigt, um Spezifika sowie den aktuellen Stand aber auch Trends der Chemielogistik zu erfassen.
In dieser und folgenden Ausgaben mit Schwerpunkt Logistik werden die wichtigsten Erkenntnisse aus der Studie vorgestellt. CHEManager sprach zunächst mit den beiden Mitautoren Prof. Dr. Carsten Suntrop, Geschäftsführender Gesellschafter CMC², und Uwe Veres-Homm, Leiter Gruppe Markt, Fraunhofer-Arbeitsgruppe Supply Chain Services SCS, über einige grundlegende Fakten zur Studie und zum Status Quo der Chemielogistik.
Teil 2 der Reihe folgt in CHEManager 19/2013.
Teil 3 in CHEManager 21-22/2013.
CHEManager: Was war die grundlegende Zielsetzung bei der Durchführung der Studie Chemielogistik für die BVL?
Uwe Veres-Homm: Die BVL ist derzeit dabei, ihre inhaltliche Arbeit stärker branchenorientiert auszurichten. Neben beispielsweise dem Automotive- und dem Handelsbereich wurde auch die Chemielogistik als ein näher zu untersuchendes Branchenfeld mit Entwicklungspotential ausgewählt. Ziel der Studie war es, mehr Transparenz und einen aktuellen Überblick in diesem spezifischen Teilbereich der Logistik zu erhalten. Dazu sollten die Marktstrukturen, Entwicklungsgrade, Geschäftsmodelle, Trends und die generelle Bedeutung der Chemielogistik in Deutschland näher beleuchtet werden.
Wie haben sich die fünf beteiligten Autoren jeweils in die Studie eingebracht?
Uwe Veres-Homm: Zur Erstellung der Studie haben wir verschiedene Kompetenzen wie bei einem Puzzle zusammengefügt: Prof. Suntrop von CMC² kümmerte sich aufgrund seiner breiten Praxiserfahrung in der chemischen Industrie um die Darstellung der Wertschöpfungsstufen und Geschäftsmodelle. Prof. Krupp von der EUFH in Brühl legte den Fokus auf Prozesse und Supply Chain Management, er nahm die ganzheitliche Perspektive von Anfang bis Ende der Wertschöpfungskette ein. Prof. Kille von der Hochschule Würzburg-Schweinfurt ist als Logistik-Marktanalyst bekannt. Er kümmerte sich um die Untersuchung des Entwicklungsgrads in der Chemielogistik und die Identifikation von Verbesserungspotentialen. Frau Heeg von der Fraunhofer SCS richtete den Blick in die Zukunft, ihr Fokus lag auf aktuellen Entwicklungen und Trends. Ich selbst habe den volkswirtschaftlichen Blickwinkel eingenommen und Marktkennzahlen und -strukturen sozusagen aus der Vogelperspektive betrachtet.
Welche Ergebnisse haben Sie besonders überrascht?
Uwe Veres-Homm: Mit der Studie wurden erstmals spezifische Kennzahlen zu diesem Markt ermittelt. Überraschend war dabei vor allem der hohe Umsatzanteil der Chemielogistik (15 %) am gesamten Logistikmarkt in Deutschland. 13 % der transportierten Tonnagen entfallen ebenfalls auf chemische Güter, gleichzeitig sind aber nur 3 % aller Logistikbeschäftigten in Deutschland der Chemielogistik zuzuordnen. Sie ist damit ein sehr umsatz- nicht jedoch personalintensives Logistiksegment. Dies liegt vor allem an der vergleichsweise hohen Automatisierung und Massengutaffinität der Mineralöl- und chemischen Grundstoffindustrie, sowie den höheren Kostenanteilen für Sicherheit und Lagerhaltung im Bereich chemischer Güter.
Interessant ist auch die sehr flächige Verteilung der Chemielogistik in Deutschland. Neben den klassischen Produktions-Hot-Spots, z.B. entlang der Rheinschiene, spielt Chemielogistik in nahezu jedem (Binnen-)Hafen eine bedeutende Rolle, hinzu kommen auch die aus Distributionsgesichtspunkten gewählten Standorte von Zentrallagern des chemischen Großhandels. Diese sind beispielsweise auch entlang der zentralen Nord-Süd-Achse der A7 zu finden, wo ansonsten keine chemische Industrie lokalisiert ist.
Carsten Suntrop: Die hohe Konzentration auf Verladerseite ließ sich quantitativ belegen. Knapp 40 % der Umsätze im Chemiebereich entfallen auf die zehn größten Unternehmen. Interessant ist die Vielzahl an etablierten Geschäftsmodellen, um mit dieser Situation umzugehen. Von absoluten Spezialisten für einzelne Transport- und Güterarten bis hin zu Generalisten mit ganzheitlichem Service-Angebot sind alle Zwischenstufen zu beobachten, um eine möglichst große Kundenbindung zu garantieren. Diese Strategien werden sowohl von Kleinstunternehmen bis hin zu den großen, integrierten Logistikkonzernen sehr unterschiedlich eingesetzt. Es gibt also nicht die „eine" Lösung, insgesamt ist ein sehr buntes Dienstleistungsangebot in der Chemielogistik zu beobachten.
Die vermutete Schwäche der fehlenden integrierten Planungs- und Steuerungsprozesse in der chemischen Industrie mit Auswirkungen für die Chemielogistik hat sich über die Interviews mit den Beteiligten auf beiden Seiten bestätigt.
Das fehlende Element der Logistik-Strategie und damit langfristigen Festlegung von Zusammenarbeitsmodellen sowohl in der Beschaffungs-, Produktions- als auch Distributionslogistik in den Chemiekonzernen ist überraschend. Logistik ist je nach Geschäftsmodell entweder ausschlaggebender Kostenfaktor oder mögliches Differenzierungskriterium - umso überraschender, dass dies nicht auf Vorstands-/ Geschäftsführungsebene strategisch fixiert ist.
Worin weicht die Chemielogistik am Stärksten von der Logistik anderer Industrien ab?
Carsten Suntrop: Grundsätzlich lässt sich die Chemie als Prozessindustrie, die in der Regel aus wenigen Stoffen eine große Vielzahl von Produkten herstellt, dem V-Typ nach Chase/Aquilano zuordnen. In der Grundstoffchemie ist die Automatisierung schon sehr stark verbreitet, während in anderen Bereichen noch Nachholbedarf herrscht. Die Integration der Partner über die Supply Chain hinweg - wie bei Automobillogistik - steckt noch in den Anfängen. Große Unterschiede herrschen auch bei der Nutzung der Verkehrsträger. So ist der Anteil der Schiene und des Binnenschiffs insbesondere bei internationalen Verkehren deutlich höher als in anderen Branchen, die auch auf langen Relationen größtenteils Lkw einsetzen.
Gibt es starke Unterschiede in der Durchführung logistischer Aufgaben im Vergleich der chemischen Großindustrie mit den zahlreichen mittelständischen Chemieunternehmen?
Carsten Suntrop: Die chemische Großindustrie hat wie die mittelständischen Unternehmen die Transportlogistik outgesourct. Wir vermuten, dass der Outsourcing-Grad bei den mittelständischen Unternehmen in Bezug auf Lager- und Umschlagslogistik und bei der Standortlogistik größer ist als bei der Großindustrie. Die Großindustrie hat oft noch Beteiligungen an den alten Werkslogistik-Abteilungen, den neuen Standortlogistik-Unternehmen.
Die Landschaft der Logistikanbieter in Deutschland ist durchweg mittelständisch geprägt. Macht sich das in der Zusammenarbeit der Chemieunternehmen mit Logistikdienstleistern bemerkbar?
Uwe Veres-Homm: Das Ungleichgewicht von großen, weltweit agierenden Konzernen auf Verladerseite und mittelständischen, oft aus ihren lokalen Wurzeln heraus gewachsenen Logistikdienstleistern ist in der Chemiewirtschaft tatsächlich besonders ausgeprägt. Bei Verhandlungen treten die Verlader üblicherweise mit einer entsprechend starken Position auf. Das ist für die Dienstleister aber nichts Neues, sie sind in den meisten Fällen mit dieser Situation „aufgewachsen" und haben sich gewissermaßen darauf eingestellt.
Die Abhängigkeit besteht ja nicht nur bei den Dienstleistern, die auf die Mengen der großen Verlader zur Auslastung ihrer Transportkapazitäten angewiesen sind, sondern auch bei den Chemieunternehmen selbst, die eine kontinuierliche Ver- und Entsorgung ihrer Produktionsanlagen sicherstellen müssen. Durch eine immer tiefgreifendere Integration in die Lagerung sowie die Werks- und Produktionslogistik versuchen die Logistiker zudem ihre Verbindung mit den Verladern dauerhaft zu festigen. Die Verlader-Dienstleister-Beziehung ist somit meist über einen langen Zeitraum gewachsen und nicht ohne weiteres austauschbar, da im Laufe der Zeit spezifische Kompetenzen auf Dienstleisterseite aufgebaut wurden.
Welche unterschiedlichen Geschäftsmodelle prägen die Chemielogistik von Chemieunternehmensseite aus?
Carsten Suntrop: Wir konnten in der Hauptsache vier unterschiedliche Geschäftsmodelle feststellen: das „Preisinduzierte Geschäftsmodell", das „Service- und Portfolioinduzierte Geschäftsmodell", das „Innovationsleitende Geschäftsmodell" sowie das „Dienstleistende Geschäftsmodell". Meist liegen Mischformen dieser generischen Typen vor. In den letzten 20 Jahren lässt sich ein deutlicher Trend hin zu mehr Diversifikation und Spezialisierung auf bestimmte Stufen in der Wertschöpfungskette erkennen.
Wie stellt sich demgegenüber die Logistikanbieterseite dar?
Uwe Veres-Homm: Die auf Chemielogistik ausgerichteten Logistikdienstleister finden sich in einem Spektrum von einer sehr spezifischen Erbringung einzelner, gekapselter Logistikleistungen bis hin zum ganzheitlichen Management der gesamten Supply Chain aus einer Hand wieder.
Der klassische Transportlogistiker, der sich beispielsweise auf die Beförderung flüssiger Gefahrgüter spezialisiert hat, kann seine Dienstleistung für viele Kunden in der Chemieindustrie parallel erbringen. Der Einsatz spezieller Assets und das im Laufe der Zeit erworbene Know-how schaffen gewisse Markteintrittsbarrieren für neue Konkurrenten. Dafür bleibt sein Leistungsangebot auf nur einen Teilbereich konzentriert, mit der Folge einer meist hart umkämpften und preissensiblen Wettbewerbssituation.
Demgegenüber steht der als Komplettlogistiker oder Supply Chain Manager auftretende Logistikdienstleister, der meist nur für wenige, ausgewählte Kunden tätig ist, dafür aber sehr eng in eine große Zahl verschiedener Leistungsbestandteile eingebunden ist. Die Austauschbarkeit ist hier sicherlich geringer und es können höhere Renditen erwirtschaftet werden, dafür sind das aufzubauende Kompetenzportfolio und die nötige Qualifizierung auch deutlich aufwändiger.
Zwischen diesen beiden Extremen steht der Kontraktlogistiker, der entweder an einzelnen Produktionsstandorten oder auch standortübergreifend ein abgestecktes Leistungsangebot für einen festgelegten Zeitraum erbringt. Für jedes dieser Geschäftsmodelle gibt es in der Praxis erfolgreiche Beispiele, der Trend geht jedoch mehr und mehr zur integrierten Logistikabwicklung über mehrere Regionen, Akteure und Wertschöpfungsstufen hinweg.
Welche Konsequenzen hat dies auf die Zusammenarbeit und das Verhältnis zwischen Verlader (Chemische Industrie) und Logistiker?
Carsten Suntrop: Der Logistiker wird mehr und mehr zum universellen Supply Chain Manager, während sich das Chemieunternehmen auf seine Kernkompetenz konzentriert, die Herstellung und Vermarktung seiner Produkte. Eine tiefere Integration wird damit für beide Seiten immer wichtiger und erfolgskritisch. Allerdings ist die „operative Denke" in Transport- und Lageraktivitäten nach wie vor weit verbreitet und der Fokus liegt deshalb noch immer auf der operativen Abwicklung. Die Planung, Steuerung und Gestaltung der gesamten Wertschöpfungskette kann jedoch nur durch eine engere, auch datentechnische Verzahnung der Beteiligten erfolgreich sein. Sie wird in Zukunft zu den wichtigsten Herausforderungen im Supply Chain Management zählen.