Strategie & Management

Power-to-X: Die Chemie wird Energiewirtschaft

Die Chemieindustrie ist zentrale Schnittstelle eines künftigen sektorübergreifenden Energiesystems

13.03.2017 -

Im ersten Halbjahr 2011 überschlugen sich die Stellungnahmen, Appelle und Positionspapiere: „Das Industrieland Deutschland braucht eine bezahlbare Energieversorgung“, forderten die energieintensiven Industrien einschließlich der Organisationen der Chemiewirtschaft. Auslöser war der bevorstehende Beschluss zur Energiewende.

Fünf Jahre später hat sich an diesen Warnungen bei jeder Neuverhandlung der EEG-Umlage nichts geändert. Doch ein zweiter Aspekt ist, wenn auch weniger öffentlich sichtbar, dazugekommen. Sah es zunächst so aus, als werde die Energiewende die chemische Industrie vor allem wegen der Entwicklung der Energiepreise tangieren, zeichnet sich mittlerweile ab, wie wichtig die aktive Beteiligung der Chemie bei der Bewältigung ihrer Herausforderungen sein wird.

Dass der steigende Anteil erneuerbarer Energien, vor allem von Wind- und Sonnenstrom, zu einer erheblichen Volatilität der Stromversorgung führt, ist mittlerweile allgemein bekannt. Diese Volatilität hat zwei Seiten. Die eine wurde zuletzt Anfang des Jahres wieder deutlich: Vor einer drohenden „Dunkelflaute“ warnte der Bundesverband der Energie- und Wasserwirtschaft (BDEW), als am 24. Januar bei Windstille und trübem Wetter über 90 % des Strombedarfs aus konventionellen Kraftwerken gedeckt werden mussten. Diese konventionelle Reserve ist bis auf weiteres die einzige Möglichkeit, die Stromversorgung ganzjährig zu sichern. Gleichzeitig wird ein anderer Weg beschritten, der aber Zeit benötigt: Der weitere Ausbau der regenerativen Erzeugungsmethoden, räumlich viel weiter gestreut, damit immer irgendwo Wind Turbinen antreibt oder die Sonne auf PV-Anlagen scheint und Strom ins Netz eingespeist wird. Dieser Ausbau hat aber zur Folge, dass an wind- und sonnenreichen Tagen deutlich mehr Strom zur Verfügung steht, als benötigt wird.

„Sektorkopplung“: Chemie bildet zentrale Schnittstelle

„Dunkelflaute“ und sogenannter „Überschussstrom“ sind damit zwei Seiten der gleichen Medaille. Effiziente Stromspeicher wären ein Weg, beide auszugleichen – daran wird intensiv geforscht, wobei angesichts der Mengen der Begriff Speicher viel weiter zu fassen ist, als „nur“ große Batterie-Stacks, die sich ohnehin nur für Kurzzeitspeicherung eignen. Im Jahre 2015 wurden laut Bundeswirtschaftsministerium insgesamt 647 TWh Strom erzeugt, davon 209 TWh aus erneuerbaren Quellen, davon wiederum 118 TWh aus fluktuierenden Quellen. Etwa 4,7 TWh mussten nach Angaben der Bundesnetzagentur abgeregelt werden, da die Leitungen nicht mehr abtransportieren konnten bzw. regional sich keine zusätzlichen Abnehmer fanden.

Jetzt kommt daher eine zweite Möglichkeit ins Spiel: Die Einbeziehung anderer Branchen - das Stichwort dazu heißt „Sektorkopplung“ und beschreibt die Verknüpfung der Energiewirtschaft mit anderen Industriezweigen, die Energie für unterschiedliche Zwecke nutzen. Die Chemie nimmt dabei eine Schlüsselstelle ein. Einerseits benötigt sie Energie zur Herstellung ihrer eigenen Produkte. Dafür kann sie Strom nutzen, wenn er vorhanden ist, und bei geringerem Stromangebot die Produktion drosseln oder auf andere Verfahren umstellen. „Demand Side Management“ heißt dieser Ansatz, der erhebliche Anforderungen an die Robustheit und Flexibilität chemischer Prozesse stellt und der seine Grenzen darin findet, dass die Produktqualität nicht leiden darf und diese Regelleistung zu Lasten der Produktion aus dem System vergütet werden müsste. Die Chemie kann andererseits auch Kraftstoffe für den Transportsektor erzeugen; oder sie entwickelt effizientere Verfahren zur Herstellung von „erneuerbarem“ Methan, das ins Erdgasnetz eingespeist und so zur Wärmeerzeugung zur Verfügung gestellt würde. Die Chemie bildet damit eine zentrale Schnittstelle eines großen sektorübergreifenden Systems.

Aus Energie werden Rohstoffe

Die Kopplung von Energiewirtschaft mit chemischer Industrie und anderen Branchen hat zusätzlichen Charme: Power-to-X (P2X)-Technologien nutzen CO2 als Kohlenstoffquelle. Damit bieten sie eine Lösungsoption für die zweite große Zukunftsfrage: Wo fossile Rohstoffe endlich sind, ihr Einsatz wegen des Klimawandels hinterfragt werden muss und das Biomasseangebot nicht ausreichen wird, alle Bedürfnisse einer wachsenden Weltbevölkerung zu befriedigen, kann die Kombination aus regenerativem Strom und CO2 Alternativen eröffnen.

Die Technologieentwicklung läuft auf vollen Touren. Mit dem Kopernikus-Förderprogramm hat das Bundesforschungsministerium eine Reihe von Projekten auf den Weg gebracht, die sich in vier Themen teilen: Neue Netzstrukturen und Systemintegration adressieren die Fragen der Infrastruktur und ihrer Verknüpfung. Ein Vorhaben zu Industrieprozessen bearbeitet das Thema „Demand Side Management“. Und unter „Power to X“ beschäftigen sich 64 Projektpartner aus Industrie und Forschungseinrichtungen mit der Frage, welche Lösungen am effektivsten sind: Lohnt sich die Umwandlung von Wasser und CO2 zur Herstellung von Wasserstoff oder von Synthesegas über Elektrolyse bzw. Co-Elektrolyse als vielseitig einsetzbare Basisprodukte? Soll man darauf aufbauend Kohlenwasserstoffen oder Oxo-Verbindungen für Mobilität oder Chemikalien wie langkettiger Alkohole für die chemische Industrie synthetisieren?

Im Rahmen von Kopernikus P2X unter Koordination von Dechema, RWTH Aachen und FZ Jülich werden verschiedene technische Lösungen entwickelt und Prozessrouten erprobt. Die Struktur des Projekts folgt dabei diesen zentralen Leitgedanken:

  • Hohe CO2-Einsparung bei maximaler Wertschöpfung: Über P2X können nicht nur „Ersatzstoffe“ für die petrochemische Wertschöpfungskette erzeugt werden. Effiziente Herstellungsverfahren für neuartige hochwertige Kraftstoffe und optimierte Produkte mit hohem ökonomischem Potenzial können Anreize bieten, alternative Rohstoff- und Energiequellen zu nutzen.
  • Integration dezentraler und autarker Lösungen: Neue Produktionspfade müssen so mit der bestehenden Infrastruktur verknüpft werden, dass diese effizient genutzt und Konzepten für eine dezentrale Energieversorgung gerecht wird.
  • Skalierbarkeit und Modularisierung: Der schrittweise Ausbau der erneuerbaren Energien wird von Technologien begünstigt, die von den typischen Skaleneffekten etablierter Prozesstechnologien entkoppelt sind.
  • Gesellschaftliche Bedürfnisse und Akzeptanz: Nachhaltige Lösungen erfordern frühzeitiges gemeinsames Handeln von Wissenschaft, Wirtschaft und Gesellschaft.
  • Exportfähigkeit: Die mit der „Energiewende“ entwickelten Technologien können für die Exportnation Deutschland auch globale Märkte erschließen.

Gleich, wie die Lösungen aussehen werden – und mit großer Sicherheit werden es keine einfache Lösungen sein, sondern eine Kombination vieler verschiedener Technologien -, Deutschland steht einmal mehr vor der Frage: Alleine vorangehen oder internationale Partner suchen?

Ziel: Europäische Energieunion

Bei der Energiewende 2011 hatte sich die deutsche Regierung für den nationalen Weg entschieden. Doch auch die EU arbeitet an der Energieunion. Angesichts der zentralen Lage Deutschlands in Europa ist das deutsche Stromnetz ein Teil des größeren europäischen Ganzen. Nicht nur für die Stromversorgung erscheint es deshalb sinnvoll, größer zu denken als zwischen Wattenmeer und Alpenrand. Eine Solarzelle im Süden Spaniens liefert rund 1,5mal so viel Strom wie in Deutschland. Auch für die Konversion von Strom zu Wasserstoff, Methan, Treibstoff oder Chemikalien gilt daher die Überlegung: Wäre es nicht sinnvoller, den Strom vor Ort in etwas umzuwandeln, das mit deutlich weniger Verlusten transportiert werden kann als Elektrizität? Diese Frage knüpft an eine Herausforderung an, der bei aller Begeisterung für P2X als zentralem Element der Sektorkopplung bislang viel zu wenig Beachtung geschenkt wurde: Woher den erneuerbaren Strom nehmen? Wollte man Deutschland zu 90 % dekarbonisieren, benötigte man nach unterschiedlichen, durchaus plausiblen Abschätzungen zwischen 1.300 (unter der Annahme extrem hoher Effizienzsteigerungen) und 3.000 TWh (bei „business as usual“). Der entsprechende Zubau dürfte am Widerstand der Bevölkerung scheitern, selbst wenn - ohnehin dringend erforderliche - neue Modelle der Bürgerbeteiligung entwickelt werden. Deutschland kann aber in der Technologieentwicklung und im -export ganz erhebliche Beiträge leisten. Gleichzeitig könnte eine europäische „Arbeitsteilung“ nicht nur zur nachhaltigsten und effizientesten Lösung für den Kontinent führen, sondern möglicherweise auch ein Werkzeug zur Regionalentwicklung sein.

Wie die Lösung am Ende auch aussehen wird, die Chemieorganisationen werden mit einer Prognose Recht behalten, die sie bereits vor Fukushima gemacht hatten. Die Energieversorgung wird chemischer werden.

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