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Finanzkrise aus regelungstechnischer Sicht

18.10.2011 -

Von Geld- und Heizungskreisläufen. Die Finanzkrise aus regelungstechnischer Sicht. Die Finanzkrise und die daraus entstandene Wirtschaftskrise beschäftigen uns alle. Was als Platzen einer Immobilien-Spekulationsblase begann, führte über verhängnisvolle Kettenreaktionen zu Einbrüchen in der sog. „realen Wirtschaft“. Aber durch welche Mechanismen kann die Zwangsversteigerung einer US-Immobilie zur Pleite eines deutschen Kfz-Zulieferers führen? Und wie kann man solche offensichtlichen Fehler in wirtschaftlichen Systemen vermeiden? Hier versucht ein Regelungstechniker vor seinem fachlichen Hintergrund, Ursachen zu analysieren und daraus Empfehlungen zur Verbesserung zu erarbeiten. Es geht weder um einen regelungstheoretischen Ansatz noch um akademische Korrektheit im volkswirtschaftlichem Bereich, sondern viel mehr um pragmatische und allgemeinverständliche Analysen und Anregungen.

Grundlage: Mitkopplung

Technische Prozesse, aber auch wirtschaftliche Prozesse, sollen stabil sein. Das Vorgehen ist allgemein bekannt: Wenn es im Winter in einem Raum zu kalt wird, dreht man die Heizung höher, dadurch wird die Temperatur angehoben. Dies bezeichnet der Regelungstechniker als Gegenkopplung, weil die Regelung gegen die Störung wirkt. Mitkopplung wäre das Gegenteil: Wenn ein Raum zu kalt wird, dreht man die Heizung ab, es wird kälter. Wenn dann noch jemand die Fenster aufreißt, führt diese Mitkopplung zu eingefrorenen Wasserleitungen – niemand wäre so dumm, das zu tun. Anschauliche Worte für Mitkopplung sind „Teufelskreis“ oder „Kettenreaktion“.

Doch genau eine solche Mitkopplung ist in der Finanzkrise passiert. Durch welchen Grund auch immer sind die Hauspreise in den USA um einige Prozent gesunken. Wer die Immobilie zu 100 % durch Darlehen finanziert hatte, hatte dadurch eine Deckungslücke in der Sicherung des Darlehens. War diese nicht durch andere Mittel auszugleichen, musste das Haus mit Verlust verkauft werden, was zu einem weiteren Sinken der Hauspreise führte – und damit zu Druck auf andere Hauseigentümer.
Als schließlich die ersten Immobilienbanken durch die nicht mehr gesicherten Darlehen ins Minus rutschten, sprang der Virus auf die Geschäftsbanken über, deren Anlagen in Hypotheken abgewertet werden mussten. Die Zusammenbrüche von Banken beunruhigten schließlich alle Sparer und Anleger. Weil sich alle weniger wohlhabend fühlen und Verluste in ihren Depots haben, werden weniger Autos bestellt und gehen schließlich Autozulieferer in Konkurs. Dies alles ist ein klassischer Fall von Mitkopplung, der über mehrere Ebenen aus einer kleinen Ursache eine riesige Wirkung hat. Um an das Bild von der Raumtemperatur anzuknöpfen: Weil es in einem Raum zu kalt war, drehen nach und nach alle die Heizung ab und reißen die Fenster auf. Aufgrund der verhängnisvollen Mitkopplung sitzen jetzt alle im Kalten – was gar nicht nötig gewesen wäre, hätte man die eigentliche Störung früh genug an der Quelle bekämpft.

Die Aufgabe einer Regelung ist es, durch Eingriffe Zustände so zu beeinflussen, dass sie gewünschte Eigenschaften behalten, beispielsweise die Raumtemperatur so konstant wie möglich zu halten. Auf die Wirtschaft übertragen wäre es eine regelungstechnische Aufgabe gewesen, zu verhindern, dass die Störung „Absinken der Immobilienpreise in den USA“ durch die Kettenreaktion die Weltwirtschaft ins Trudeln bringt. Aus regelungstechnischer Sicht wird im Folgenden überlegt, durch welche Ansätze solche Mitkopplungen in Zukunft vermieden werden könnten.

1. Regelreserven einbauen

Kluge Regelungstechniker legen Regelungen so aus, dass ausreichend Regelreserven vorhanden sind. Im Beispiel der Raumtemperaturregelung müssen Heizkörper und Vorlauftemperatur so groß sein, dass das Aufdrehen der Heizung schnell genug zur erwünschten Raumtemperatur führt. Der Regler stößt an seine Begrenzung, wenn selbst bei vollständigem Aufdrehen des Heizungsventils die Raumtemperatur nicht mehr den gewünschten Wert erreicht.

Genau solche Regelreserven fehlten den Hausbesitzern, die wegen der um wenige Prozent sinkenden Hauspreise zahlungsunfähig wurden, und den Immobilienfinanzierern, die wegen einiger Kreditausfälle in Konkurs gingen. Mangels Regelreserve stießen die Beteiligten an ihre Regelgrenzen und konnten die Störung nicht mehr selbständig ausregeln. Dadurch lösten sie die Kettenreaktion aus.

Eine höhere „Regelreserve“ wäre es für die Hausbesitzer, mehr Eigenkapital zur Hausfinanzierung einzusetzen, und für die Immobilienfinanzierer, mehr Rücklagen für Kreditausfälle vorzusehen.

2. Verstärkung verringern

Die Verstärkung gibt an, wie stark ein Regler auf eine Störung reagiert. Wenn der Heizkörperthermostat wegen einer Temperaturabweichung von nur einem Grad die Heizung bis zum Anschlag aufdreht, wird die Temperatur schnell zu hoch werden – das System schwingt über.

Die Finanzwirtschaft spricht nicht von der Verstärkung, sondern vom „Hebel“. Hebelwirkungen werden durchaus gewünscht: Eine Mio. € Eigenkapital einer Bank ermöglicht die Vergabe von Darlehen von vielen Mio. Zinsdifferenzen von Prozent-Bruchteilen ermöglichen Erträge in Millionenhöhe. Finanzinvestoren können durch Einsatz einer „Margin“ von wenigen Tausend Dollar an der Kursentwicklung eines Portfolios von 100.000 US-$ teilnehmen.

Wenn aber stärkere Schwankungen im wirtschaftlichen Umfeld auftreten – beispielsweise Aktien- oder Währungskurse sich an einem Tag um 5 % ändern – stellen wir fest, dass die Hebelwirkung zu groß ist. Wer mit 1 % Änderung rechnet und einen Hebel von 20 akzeptiert, riskiert 20 % Verlust. Wenn aber 5 % Änderung auftreten, ist er pleite. Der Hebel verstärkt die Unruhe im System statt sie zu dämpfen.

Eine spezielle Hebelwirkung hat das weltweit nach Chancen suchende Anlagenkapital. Insgesamt ist dies das 3,5-fache des jährlichen Weltwirtschaftsproduktes. Wenn einzelne Unternehmen, Branchen oder Länder besonders attraktive Anlagemöglichkeiten bieten, setzt das eine enorme Flutwelle von Kapital in Bewegung, die viel größer ist als die wirtschaftlich gerechtfertigte Kapitalisierung – ein großer Hebelarm baut sich auf, brandet über das Unternehmen, die Branche oder das Land hinweg, bricht in sich zusammen und fließt wieder ab.

Die Lösung liegt auf der Hand: Die Hebel müssen verringert werden. Für die Auslegung akzeptabler Hebel darf nicht das Motto „es wird schon gut gehen“ gelten, sondern „es kann doppelt so schlimm kommen wie erwartet“.

3. Zeitkonstanten erhöhen

Eine gängige Methode der Regelungstechnik ist es, unterschiedlich schnelle Prozesse dynamisch zu entkoppeln. In der Prozessindustrie kann man beispielsweise den Druck eines Reaktors innerhalb von Sekunden auf den gewünschten Wert regeln, während eine Temperaturregelung mehrere Minuten zur Ausregelung braucht. Also stellt man Druckregler mit schnellem Regelverhalten und Temperaturregler langsam ein. Druckschwankungen werden so ausgeregelt, bevor sie sich auf die langsame Temperaturregelung auswirken könnten.

Die globale Vernetzung hat die Informationsflüsse beschleunigt und verbreitert. Lokale Ereignisse wie Probleme einer Bank werden in Sekunden in der ganzen Welt bekannt. Und die Nachricht erreicht nicht nur Spezialisten in Banken und Regierungen, sondern die gesamte Finanzwelt und Bevölkerung. Dadurch beeinflussen sich die Märkte umgehend gegenseitig – wiederum im Sinne der Mitkopplung. Sinkt beispielsweise in den USA ein Aktienindex, gehen die europäischen und asiatischen Indices ebenfalls in die Knie – was in den USA wieder als Signal für schlechter werdende Kurse gesehen wird.

Leider fehlen in der Wirtschaft die Filter, die schnelle Prozesse von langsamen Prozessen trennen. Schnelle Ereignisse können Unternehmensmeldungen sein, die zu entsprechendem Schwanken von Einzelkursen führen. Andere Prozesse sind aber von Natur aus langsam: Die Verknappung der Rohstoffe und damit deren tendenzielle Preissteigerung; Das Auf und Ab von Volkswirtschaften in Konjunkturzyklen; Währungskurse durch unterschiedliche Inflationsraten und Zinssätze. Und genau hier hat sich die Geschwindigkeit der Informationsflüsse unheilvoll ausgewirkt: Kleine, lokale Meldungen wirkten sich blitzschnell auf die tendenziell langsamen Rohstoffpreise und Währungskurse aus – ohne dass dafür ursächliche Zusammenhänge vorgelegen hätten.

Selbstverständlich wird niemand vorschlagen, den weltweiten Informationsfluss zu verzögern. Es gibt aber Möglichkeiten, künstlich Zeitkonstanten einzubauen. Durch verkürzte Handelszeiten könnte die Mitkopplung der Börsen in Asien, Europa und USA von Sekunden auf einen Tag verlangsamt werden. Durch das Fixing von Wechselkursen ließe sich ebenfalls eine Glättung erreichen. Allein die Verlangsamung von Transaktionen würde manche kleine Kettenreaktionen verhindern. Würden Aktien und Währungen nicht zum zufälligen Sekundenkurs abgerechnet, sondern zu einem akkumulierten Tageskurs, dem ein hundertfach höheres Handelsvolumen und dadurch eine Glättung zugrunde liegt, würde dies eine Zeitkonstante und damit eine Dämpfung der Dynamik darstellen. Oder beispielsweise im Bilanzrecht: Warum müssen Wertpapiere zu dem Kurs bewertet werden, der zufällig am letzten Tag des Jahres festgestellt wurde? Die Zufälle eines Tages verändern so völlig willkürlich die Bilanz eines Jahres – das ist wirtschaftlicher Unsinn und muss durch sinnvolle Zeitverzögerungen ausgeglättet werden.

4. Puffer einbauen

Prozesstechnische Anlagen bestehen aus verschiedenen Anlagenteilen. Es gibt eine ganz einfache Lösung, damit kleinere Schwankungen eines Anlagenteils nicht die folgenden anstecken: Puffertanks. Wird in einem vorgeschalteten Anlagenteil mehr produziert als aktuell benötigt, steigt der Vorrat im Tank, wird zu wenig produziert, sinkt der Vorrat.

Genau solche Puffertanks hätten das Entstehen der Finanzkrise verhindern oder zumindest verlangsamen können. Staaten und ihre Banken hätten durchaus die Möglichkeit gehabt, fehlende Liquidität zur Verfügung zu stellen, um so die globale Kettenreaktion aufzuhalten. Sie haben es ja auch tatsächlich gemacht – aber viel zu spät. Man könnte sagen: Die Regler waren vorhanden, aber nicht eingeschaltet. Oder – noch schlimmer – sie reagierten erst mit einer Verzögerung, die durch politische und wirtschaftliche Abstimmungsprozesse entstanden und nachdem bei Bevölkerung und Regierungen durch die Schadenshöhe Konsens entstand. Eine Lehre der Finanzkrise sollte sein, detaillierte Pläne für das Eingreifen bei Problemen zu erstellen und in der Schublade bereit zu halten.

Eine spezielle Art von Puffer sind staatliche Konjunkturprogramme oder Steuersenkungen. Hier speist der Staat aus seinem Vorrat Geld in den Markt, um die Wirtschaft anzuregen. Hier muss leider Wasser in den Wein geschüttet werden, denn die meisten Staaten haben normalerweise überhaupt keinen Vorrat, aus dem sie Geld ausschütten kann, sondern müssen Kredite aufnehmen, um anregen zu können. Das hat nur Sinn, wenn die staatlichen Maßnahmen eine positive Hebelwirkung haben: Wenn z.B. ein Straßenbauprojekt von 10 Mio. € private Investitionen von 100 Mio. € anregt, ist das Geld gut angelegt. Wenn dagegen staatliches Geld für den direkten Konsum ausgegeben wird, hat es keine Hebelwirkung und verpufft.

5. Selektive Sicherungen vorsehen

In Prozessanlagen kann es durchaus passieren, dass Störungen sich nicht ausregeln lassen und es lokal zu dauerhaften Abweichungen kommt. Wenn beispielsweise ein Elektro-Heizgerät einen Kurzschluss hat, kann man das Zimmer nicht mehr heizen. Wichtig ist aber, dass die Sicherung den Stromfluss des betroffenen Stromkreises schnell unterbricht. Sonst würde die Stromlast des ganzen Hauses zu groß und schließlich die Sicherung des Hausanschlusses fallen – und das Problem eines Gerätes würde das ganze Haus dunkel werden lassen. Diese sog. selektive Sicherung ermöglicht es, den Schaden so gering wie möglich zu halten, indem man die Abschaltung auf die kleinstmögliche Einheit begrenzt.

Leider gibt es solche Mechanismen in der Finanzkrise nicht. Weil eine einzelne Bank Probleme bekam, wurden nach und nach auch andere Banken in den Ruin getrieben. Es gelang nicht, das Problem durch eine Sicherung selektiv zu isolieren. Dabei wäre es recht einfach gewesen: Man hätte in dem Moment, in dem die erste Bank zusammenbricht, alle ihre Rechte und Pflichten durch einen Dritten, vorzugsweise eine staatliche Stelle, übernehmen müssen. Alle Einlagen, Kredite und Verträge dieser zusammengebrochenen Bank wären erst einmal gesichert gewesen, und danach hätte man viel Zeit gehabt, um die Probleme Schritt für Schritt zu lösen. Die Übernahme hätte natürlich schnell gehen müssen – in Stunden statt in Tagen und Wochen. Die Öffentlichkeit hätte es kaum zur Kenntnis genommen und vor allem: Der Virus des Misstrauens hätte sich nicht verbreitet.

6. Nichtlinearität einkalkulieren

Unser menschliches Denken ist weitgehend linear geprägt: Wenn ich 10,- € habe, kann ich zehn Mal so viel kaufen wie mit 1 €. Die Veränderung einer Größe führt also zu einer proportionalen Veränderung der abhängigen Größe. Dieses Denken wird auch zur Bilanzierung verwendet: Wenn ein Unternehmen eine Million Aktien zu je 50,- € besitzt, stehen sie mit 50,- Mio. € in den Büchern.

Dies vernachlässigt die Nichtlinearität der Wirtschaft. Wenn ich eine Aktie verkaufe, bekomme ich die 50,- €. Wenn ich aber tausende, zehntausende, Millionen auf einmal verkaufe, drückt es den Preis. Wenn die Aktien einem „Nebenwert“ mit kleinem Börsenwert gehören, kann ein Massenverkauf den Kurs auf wenige Euro drücken – ohne dass es dafür einen anderen Grund gibt als den, dass ein Großaktionär sein Paket verkauft. Es ist also völlig unsinnig, den einfachen linearen Ansatz für die Bilanzierung zu verwenden – weil man diesen Wert nie erzielen kann.

Hier ist es nicht leicht, bessere Lösungen vorzuschlagen, denn die Verwendung eines Marktpreises ist die einfachste und in der Marktwirtschaft systemkonformste Grundlage. Vielleicht hilft es, Grenzwerte einzuziehen. Beispielsweise dass eine Firma nie mit mehr Wert bilanziert werden darf als mit dem 10-Fachen ihres Jahresgewinns. Und nie mit weniger als ihrem Aktiva. Oder man bewertet die Papiere zum Einkaufspreis und bewertet die Wertveränderung mit dem beim Verkauf erzielten Kurs. In beiden Fällen würde verhindert, dass nur theoretisch erzielbare Werte ohne Berücksichtigung der Nichtlinearität verwendet werden müssen.

7. Prozesse robust gestalten

Für den Entwurf von Reglern gibt es unterschiedliche Gütekriterien: Die möglichst geringe Regelabweichung ist nur eines davon. Beispiele für andere Kriterien wäre z.B. Vermeidung von Überschwingern, Minimierung des Energieverbrauchs, Vermeidung von Druckstößen in Leitungen. Besonders wichtig ist auch die Robustheit. Damit wird beurteilt, wie „robust“ die Regelung bei sich ändernden Randbedingungen ist. Wenn eine Heizungsregelung im Frühjahr und Herbst schnell regelt, kann sie bei starkem Frost beispielsweise zu heftig reagieren und Temperaturschwankungen auslösen.

Im wirtschaftlichen Umfeld ist Robustheit ein ganz wichtiges Kriterium: Wenn sich Aktien- und Devisenkurse im Monat nur um wenige Prozent ändern, werden diese Verschiebungen vom System problemlos weggesteckt. Wenn die führenden Aktienindizes von Europa und den USA um 20 % innerhalb eines Monats wegbrechen, überfordert dies die Robustheit der Systeme: Die Einhaltung gegebener Garantie- oder Renditeversprechen erfordern mehr Geld, als der Garantiegeber hat. Geschäftsmodelle, die auf Zinsdifferenzen basieren, brechen zusammen, wenn sich die Zinsrelation umdreht.
Immobilienfonds, die ihr Geld langfristig in Immobilien investieren, können eine massenhafte Rückgabe von Anteilen nicht bedienen. Häufig erkennt man im Nachhinein, dass handwerkliche Fehler gemacht wurden, beispielsweise indem langfristige Darlehen über Tagesgeld refinanziert wurden oder man einfach davon ausging, dass die Kursschwankungen klein bleiben werden. Aber diese Erkenntnis nützt nichts mehr: Weil das System nicht robust genug war, ist es zerbrochen.

Die Lehre ist, dass die Robustheit von Geschäftsmodellen viel größer sein muss als bisher. Bevor man Verträge eingeht, muss untersucht werden, wie sich starke Störungen im wirtschaftlichen Umfeld auswirken werden. Dies lässt sich durch Simulationen ermitteln und sollte Bestandteil von allen Risikohinweisen werden.

8. Robustheit als Gütekriterium verwenden

Ein viel diskutiertes Thema sind die Managementgehälter – wobei durchaus auch Neid mitspielt. Häufig sind die Gehälter und Bonuszahlungen an den Ertrag des Unternehmens gekoppelt. Mir geht es nicht um die Höhe der Gehälter, sondern um einen gerechteren Ansatz für die Ermittlung ihrer Höhe. Der erzielte Ertrag spiegelt die zufällige wirtschaftliche Phase wieder. Wenn die Wirtschaft wächst, ist es leicht, hohe Gewinne zu erzielen – soll das belohnt werden?

Alternativ wäre es viel sinnvoller, die Robustheit eines Unternehmens zu bewerten: Wie hätte sich das Unternehmen entwickelt, wenn die Währungskurse, die Aktienkurse, die Zinssätze um ein Drittel gestiegen oder gefallen wären? Die Methode hierfür ist die Sensitivitätsanalyse, bei der die Empfindlichkeit von Systemen für einzelne oder mehrere Änderungen beurteilt wird.

Andere Fragen für die Beurteilung einer Unternehmensführung wären: Wie ist das Risikomanagement aufgestellt? Welche Vorkehrungen wurden für die nächste Rezession getroffen? Was wurde in die Zukunftssicherung gesteckt, in Entwicklung, in Ausbildungund Weiterbildung? Welchen Beitrag leistete das Unternehmen zu Stabilität in Arbeitsund Finanzmarkt? Zugegeben: Diese Kriterien sind schwieriger zu bewerten als nur die Ertragssituation, aber sie würden das Management zu einer verantwortlichen Unternehmensführung motivieren und hätten eine höhere gesellschaftliche Akzeptanz.

9. Normale Schwankungen akzeptieren

Bisher wurden psychologische Punkte ausgeklammert – sie sind nicht direkt Inhalt regelungstechnischer Überlegungen. Aber auch sie tragen zu Mitkopplungen bei: Wenn Menschen Angst um ihren Arbeitsplatz haben, bestellen sie kein neues Auto und beziehen keine größere Wohnung – und gefährden damit wiederum Arbeitsplätze in der Kfz- und Bauindustrie. Diese Effekte können nicht ausgeregelt werden, sie lassen sich nicht verhindern. Es gibt Konjunkturzyklen mit Auf- und Abschwüngen. Es gibt strukturelle Änderungen wie die Globalisierung oder die Verknappung von Rohstoffen. Kurse, Zinsen, Inflationsraten, Arbeitslosenquoten – all dies unterliegt Schwankungen. Man muss versuchen, diese Schwankungen möglichst klein zu halten, aber letztlich muss man sie akzeptieren. Wer Panik verbreitet, weil die Arbeitslosigkeit von 3,27 auf 3,30 Mio. steigt oder einige Quartale ohne Wirtschaftswachstum zu erwarten sind, handelt unseriös und unvernünftig. Er erzeugt Ängste, die die Effekte noch verstärken. Es entstehen sich selbst erfüllende Prophezeiungen, es gibt Mit- statt Gegenkopplung.

Ähnliche Schwankungen sind auch durch Anleger zu akzeptieren. Wer sein Geld in Rentenpapieren anlegt, hat auch Kursschwankungen, aber eine garantierte Rendite. Wer in Aktien investiert, erwartet langfristig mehr Rendite, nimmt dafür aber starke Schwankungen in Kauf – bis hin zum Totalverlust. Will er diese Schwankungen nicht akzeptieren und schreit jetzt nach staatlicher Hilfe, hat er das System der Beteiligung an privaten Unternehmen nicht verstanden. Die Gesellschaft hat hier eine Pflicht zur Aufklärung, in der Regel aber nichtzu steuerfinanzierten Rettungsaktionen – so hart das für den Einzelnen sein mag.

10. Gier aus“regeln“

Der letzte Abschnitt ist der politischste. In den vorigen Abschnitten wurden Maßnahmen vorgeschlagen, die staatliche Eingriffe darstellen. Teilweise sind es direkte staatliche Maßnahmen z.B. in der Krisenintervention, teilweise sind es veränderte Spielregeln wie z.B. die Begrenzung von Hebelwirkungen. Man braucht auch eine Aufsicht, damit die Spielregeln eingehalten werden. Die Gier, möglichst viel Gewinn zu machen, ist durchaus eine menschliche Eigenschaft, mit der eine Gesellschaft umgehen können muss. Es ist eine gesellschaftliche und damit staatliche Aufgabe, die Gier durch Spielregeln so einzugrenzen, dass die Gesamtheit keinen Schaden nimmt. Das heißt aber nicht, dass der Staat eine dominante Rolle in der Wirtschaft übernehmen sollte. Es gibt keine Beweise dafür, dass Beamte eine Wirtschaft besser führen könnten als Unternehmer oder dass Politiker vor kurzsichtigen Optimierungen geschützt wären.

Ich vergleiche es mit Verkehrsregeln: Der Staat grenzt die menschliche Ungeduld beim Autofahren durch Verkehrsregeln ein, er überwacht in Stichproben ihre Einhaltung, er bestraft ihre Übertretung. Und er hilft bei Unfällen. Aber wir brauchen keine Polizisten am Steuer jeden Autos, wir brauchen keine lückenlose Überwachung. Wir brauchen das nicht, weil jeder einsieht, dass Verkehrsregeln zur Sicherheit aller nötig sind, zur Vermeidung von Anarchie und zur Ermöglichung eines Verkehrsflusses. Solche Regeln benötigen wir auch für die Finanzmärkte: Regeln, die jeder einsieht, und einen Staat, der sie durchsetzt und bei Unfällen hilft. Nicht mehr, aber auch nicht weniger als das.

Nachwort

Erlauben Sie mir noch ein kleines persönliches Nachwort. Warum habe ich diesen Artikel geschrieben? Ganz sicher nicht aus Besserwisserei nach dem Motto „hättet ihr uns Regelungstechniker nur gefragt, hätten wir die Krise verhindern können“. Auch nicht, um mich für Aufgaben im Wirtschaftsministerium zu qualifizieren. Es ging mir erstens darum, Systemzusammenhänge und Dynamiken zu verstehen und darzustellen. Regelungstechniker sind eben Profis in Sachen Systemdynamik. Zweitens wollte ich den fachübergreifenden Dialog über wirtschaftliche Fragen anregen – das Thema ist nicht nur für die viel hofierten Shareholder wichtig, sondern für alle. Und drittens wollte ich zeigen, dass die Regelungstechnik Spaß macht und nicht nur zur Analyse von Problemen, sondern auch zu Lösungsvorschlägen beitragen kann.

Kontakt:
Dr. Thomas Tauchnitz, Hofheim
tauchnitz-automation@gmx.de