Prozessleittechnik - Wege in die Zukunft
NAMUR Hauptsitzung zeigt Trends der Automatisierungstechnik
Im Interview nimmt Daniel Huber, Geschäftsführer der ABB Automation und Leiter der Division Process Automation der ABB in Central Europe (CEU), zu aktuellen und zukünftigen Themen der Prozessleittechnik Stellung.
CHEManager: Herr Huber, die NAMUR fordert seit Jahren Vereinheitlichungen bei der Normung von Feldbussen, der drahtlosen Kommunikation oder bei der Geräteintegration (FDT/DTM, EDD(L)). Welche Position nimmt ABB bei diesen Themen ein?
Daniel Huber: Wir unterstützen die Forderung der NAMUR. Unterschiedliche Standards bewirken nicht nur höhere Komplexität und höheren Aufwand beim Endanwender, sondern auch erheblich höhere Kosten bei den Automatisierungslieferanten. Wir bei ABB haben beispielsweise die verschiedenen Feldbusse in unserem Leitsystem 800xA implementiert, was deutlich höhere Entwicklungskosten mit sich geführt hat, als wenn es nur einen Feldbusstandard geben würde.
Dies war einer der Gründe, weshalb wir maßgeblich bei der Einführung von FDI - der Harmonisierung der Geräteintegration in der Prozessindustrie - mitgewirkt haben. Mit FDI ist es uns das erste Mal gelungen, uns auf einen einheitlichen Standard zu einigen. Es liegt jetzt an uns allen - den Endanwendern und den Zulieferern - FDI zum Erfolg zu führen, indem wir diesen Standard auch anwenden, sobald es die entsprechenden Produkte auf dem Markt gibt.
Das Thema Wireless ist ähnlich gelagert wie das Thema FDI. Die Anwender haben deutlich gemacht, dass sie nicht investieren werden, solange wir Hersteller uns nicht auf einen Wireless-Standard einigen. Das ist allerdings nicht so einfach wie bei FDI. Wir versuchen ein ähnliches Konstrukt, um eine Harmonisierung herbeizuführen. Momentan schaut es viel versprechend aus, wir haben im zurückliegenden Jahr große Fortschritte erzielt, aber es ist heute noch zu früh um von einem Erfolg zu sprechen.
Wir wünschen uns von den Anwendern eine klarere Vorgabe. Welche Anforderungen haben die Anwender genau? Bei FDI ist z.B. die NAMUR sehr konkret geworden. Allerdings sind beim Thema Wireless die Unterschiede der existierenden Lösungen größer als das bei FDT/DTM und EDD der Fall war. Man kann in diesem Fall nicht so einfach sagen, man nimmt das Beste aus beiden Welten und fügt es in einer Lösung zusammen.
Welche Neuheiten auf der Feldebene kann man in den nächsten Jahren erwarten?
Daniel Huber: Nachdem wir hier auf der NAMUR-Tagung eine erste funktionierende FDI-Installation mit Geräten unterschiedlicher Hersteller zeigen, erwarte ich, dass spätestens im Jahr 2013 die ersten Leitsysteme und Feldgeräte auf dem Markt käuflich sein werden, die FDI unterstützen. Zug um Zug werden dann alle relevanten Feldgeräte-Hersteller ihre Produktlinien mit FDI-Packages auf den Markt kommen. Das wird sicher einige Zeit brauchen bis zur vollständigen Umsetzung, aber der Weg ist eindeutig vorgezeichnet.
Wir werden auch verstärkt Wireless-Produkte in der Anwendung sehen. Wireless-HART-Produkte gibt es ja beispielsweise schon - auch von ABB - und sie können und werden heute schon eingesetzt.
Als weitere Neuentwicklung haben wir den Prototyp eines energieautarken Sensors vorgestellt. Diese Sensoren beziehen ihre Energie aus ihrer unmittelbaren Umgebung, das kann im einfachsten Fall mittels photovoltaischer Zellen geschehen, aber auch aus Temperaturdifferenzen, Vibrationen oder Durchflüssen. Für eine flächendeckende Verbreitung ist natürlich eine industrietaugliche drahtlose Kommunikation Voraussetzung.
Diskutiert wird auch „Ethernet in the Field". Dabei geht es darum, wie weit sich die Ethernet-Technologie bis zum Feldgerät ausbreiten wird. Geht das mit dem heutigen physikalischen Ethernet-Layer, oder muss zuerst eine neue physikalische Schicht entwickelt werden? Bei diesem Thema stehen wir jedoch noch ganz am Anfang der Diskussion.
Leitsysteme haben in den letzten Jahren immer mehr Funktionen übernommen. Wird sich dieser Trend fortsetzen?
Daniel Huber: Dieser Trend wird sich in gewissem Maße fortsetzen, mehr bei der Anwendung und weniger in der Produktentwicklung. Einige Leitsysteme - beispielsweise das System 800xA von ABB - sind heute bereits Integrationsplattformen für Advanced Process Control (APC), Manufacturing Execution Sytsems (MES), Simulation und vieles mehr.
Viele Anwender in der Prozessindustrie, die moderne Leitsysteme mit all deren Möglichkeiten installiert haben, benutzen jedoch einen Großteil dieser Funktionen noch nicht. Es geht jetzt darum, zusammen mit den Anwendern den Nutzen der vorhandenen Funktionalitäten aufzuzeigen und sie anzuwenden.
Welche weiteren Trends beeinflussen die zukünftigen Entwicklungen auf dem Sektor Leittechnik?
Daniel Huber: Das Internet wird auch weiterhin die Leittechnik sehr stark beeinflussen. Da wäre zum Beispiel das Thema Cyber-Security zu nennen. Durch die Offenheit der Leitsysteme sind diese jetzt Angriffen aus dem Web ausgesetzt, die es abzufangen gilt. Bei der Leittechnik-Entwicklung muss daher dieses Thema schon von Anfang an berücksichtigt werden - Stichwort: Secure by Design.
Auch die Software Entwicklung unterliegt einem starken Wandel. Neue Entwicklungsprozesse, wie beispielsweise agile Entwicklungsmethoden wie SCRUM, haben bereits in der Leittechnikentwicklung - zumindest bei ABB - Einzug gehalten. Neue Bedienmodelle - wie wir sie beispielsweise vom iPad her kennen - werden auch die Bedienung von Automatisierungssystemen verändern. Auch hierzu stellen wir hier auf der Namur Hauptsitzung einen beeindruckenden Prototyp unserer schwedischen Forschungskollegen vor.
Wir hören von verschiedenen Kunden, dass Leitsysteme ausreichend Funktionalität besitzen und dass Anwender eher größere Robustheit und mehr Zuverlässigkeit fordern. Dies wird unter dem Stichwort „gehärteter PLS-Kern" diskutiert. Ein Thema, das an dieser Stelle weiter untersucht und diskutiert wird, ist die Frage, wie stark Leitsysteme in Zukunft von der Microsoft-Technologie abhängig sein wollen und sollen.
Die Leittechnik soll heute nicht nur den Prozess sicher regeln und steuern, sondern auch zur effizienten Nutzung der Ressourcen beitragen - oft im Verbund mit MES oder PLM Systemen. Wie ist ABB hier positioniert?
Daniel Huber: ABB bietet hierfür in der Prozessindustrie die Produktfamilie CPMplus an. CPMplus ist zwischen den Leitsystemen und den ERP Systemen positioniert. Es handelt sich dabei um eine Suite von Produkten wie beispielsweise Historian - Real Time Storage, Smart Client oder Enterprise Connectivity.
CPMplus ist eng mit 800xA integriert, kann jedoch mit jedem beliebigen Leitsystem kombiniert werden, da die MES Funktionen oft unabhängig vom Leitsystem beschafft werden. Mit unserer Serviceunterstützung versetzen wir Anwender in die Lage, alle Funktionalitäten für sich Effizienz steigernd und Kosten senkend zu nutzen
Die Zunahme der Komplexität stellt an die Anlagenfahrer enorme Anforderungen. Wie kann die Mensch-Maschine-Schnittstelle so gestaltet werden, dass der Anlagenfahrer die Übersicht behält, beziehungsweise welche Aufgaben kann das Leitsystem übernehmen, um den Anlagenfahrer zu entlasten?
Daniel Huber: Die speziellen Arbeitsabläufe und Anforderungen des Bedieners müssen von der Leittechnik berücksichtigt werden. Bei der Entwicklung unseres Automatisierungssystems haben wir daher von Anfang an neben technischen Gesichtspunkten den Anlagenfahrer in den Vordergrund gestellt. In der Entwicklung setzen wir neben unseren Ingenieuren und Software-Entwicklern auch Mitarbeiter aus der kognitiven Psychologie ein.
Ein wichtiger Bereich der HMI-Entwicklung ist der Umgang mit anormalen Situationen, also Situationen, die das Leitsystem nicht alleine bewältigen kann und die daher den Eingriff des Bedieners erfordern. Bei der Umsetzung eines Leitsystemprojekts ist es entscheidend, die Arbeitsplatzgestaltung an die Arbeitsweise des Bedieners anzupassen.
Außerdem sollte die Einführung leistungsfähiger Alarmmanagementstrategien unterstützt werden, die über Funktionen wie Alarm-Shelving, also bedienergesteuerte Alarmunterdrückung, und Alarm-Hiding, die zustandsbasierte Alarmunterdrückung, verfügen. Durch diese Funktionen wird die Anzahl von Fehlalarmen und unkritischen Alarmen gesenkt.
Wichtig ist hier ein Situationsbewusstsein des Bedieners: Er muss die aktuellen Prozess- und Ausrüstungsbedingungen genau wahrnehmen und die Bedeutung der verschiedenen Informationen aus der Anlage unmissverständlich deuten. Dafür spielen auch die Definition und der Einsatz von Farben, durch die anormale Situationen bestmöglich sichtbar gemacht werden können, eine wichtige Rolle.
Die menschliche Seite ist Ihnen also wichtig ...
Daniel Huber: ... ja, die menschliche Faktoren müssen besonders berücksichtigt werden. Eine ergonomische Arbeitsumgebung führt automatisch zu einem niedrigeren Stressniveau des Bedieners, was wiederum die Zuverlässigkeit und Effizienz des Bedieners erheblich erhöht. Ein effizienter Bedienerarbeitsplatz bezieht produktive Designkonzepte wie zum Beispiel Pultsysteme mit motorgesteuerter einstellbarer Pult-/Monitor-Position, ausrichtbare Soundsystem oder integrierte dimmbare Beleuchtung ein.
Was erwartet die nächste Generation von Bedienern und Ingenieuren von der Automatisierungstechnik?
Daniel Huber: In spätestens 15 Jahren werden wir die erste Generation der so genannten Digital Natives als Anlagenfahrer sehen, für die Smartphones, iPad und soziale Netzwerke selbstverständlich sind. Um diese Generation für Automatisierungstechnik zu begeistern, müssen wir beispielsweise in der Software-Entwicklung mit den neuesten Entwicklungsmethoden - wie die bereits erwähnte SCRUM-Methode - arbeiten. Auch wollen Anlagenfahrer bei der Bedienung ihrer Anlage auf dem gleichen Niveau arbeiten, wie zuhause und in der Freizeit, was die Richtung zukünftiger Bedienphilosophien vorgibt.
Wenn wir - die Automatisierungsindustrie - diese modernen Methoden und Technologien in unsere Arbeit einfließen lassen, wird es uns auch in Zukunft gelingen, gut ausgebildeten Nachwuchs für die Automatisierungstechnik zu motivieren.
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